Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Grad, aber sie trugen allesamt schwere, dicke Stoffe. Wollpullover, Mäntel, ein Regenmantel, Strickwesten. Ein Regenmantel! Die Gestalt, die an dem Geländer oberhalb des Strands entlangging, betrachtete ich genauer. Der Mann hatte den Kragen hochgeschlagen, und seinen Rücken zierte ein langer, dunkler Schweißfleck. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in den Magen: ich hatte den zweiten Killer aus Sofia wiedergefunden.
    Im Laufschritt überquerte ich die Straße.
    Der Mann drehte sich um. Er öffnete den Mund, dann machte er auf der Stelle kehrt und flüchtete zwischen den sitzenden Greisen hindurch. Ich lief schneller, stieß in meinem Zickzackkurs mehrere Liegestühle um und hatte nach ein paar Sätzen den Mörder erreicht. Er hatte schon die Hand in der Manteltasche. Ich packte ihn am Kragen und versetzte ihm eine
    Gerade in den Magen. Sein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, und eine Uzi-Maschinenpistole fiel zu Boden. Mit dem Fuß stieß ich die Waffe weg, umklammerte seinen Hals mit beiden Händen und riß seinen Kopf nach unten. Mit voller Wucht rammte ich ihm das Knie ins Gesicht und hörte mit einem trockenen Laut das Nasenbein brechen. Hinter mir vernahm ich das Jammern und Stöhnen der aufgeschreckten Greise, die sich aus umgeworfenen Stühlen aufrappelten.
    »Wer bist du?« schrie ich ihn auf englisch an und versetzte ihm mit dem Kopf einen Schlag zwischen die Augen. Der Mann fiel rücklings zu Boden, sein Schädel prallte auf den Asphalt, und aus der Nase quoll ihm das Blut. Ich packte ihn erneut. »Wer bist du, zum Teufel?« Ich war wie von Sinnen, ich hockte neben ihm und bearbeitete sein Gesicht mit den Fäusten; meine gefühllosen Finger zersplitterten ihm die Knochen und zermalmten seinen blutigen Mund. »Wer zahlt dich, Schwein?« schrie ich und hielt ihn mit der rechten Hand fest, während ich mit der Linken seine Taschen durchsuchte. Ich fand seine Brieftasche und zog zwischen anderen Papieren seinen Paß hervor: metallblau und schimmernd in der Sonne. Ich war sprachlos, als ich den eingravierten Schriftzug sah: United Nations. Der Mörder besaß einen Paß der Vereinten Nationen.
    Es war nur eine Überraschungssekunde, aber die war zuviel.
    Der Bulgare stieß mir das Knie zwischen die Beine, dann schnellte er hoch wie eine Feder, während ich mich in jähem, atemberaubendem Schmerz krümmte. Er warf mich von sich und trat mit seiner eisenbeschlagenen Stiefelspitze nach meinem Gesicht. Es gelang mir gerade noch, so weit auszuweichen, daß der Hieb nicht den Kiefer traf, aber ich spürte, wie meine Lippe aufriß und ein Blutstrahl hervorschoß. Mit der linken Hand versuchte ich, das klaffende Fleisch festzuhalten, während ich ungeschickt mit der Rechten nach meiner Pistole tastete. Aber der Killer machte sich bereits aus dem Staub.
    In einer anderen Stadt hätte ich zur Flucht mehrere Minuten Zeit gehabt, in Israel blieben mir maximal ein paar Sekunden, bis die Polizei oder das Militär zur Stelle sein würden. Mit gezückter Waffe hielt ich mir die näher rückenden Alten vom Leib, dann rannte ich davon, so schnell ich konnte, schwankend und ächzend, zurück zu meinem Wagen auf dem Atzma’ut Square.
    Meine Hand zitterte, als ich den Schlüssel ins Schloß steckte, und das Blut floß in Strömen. Ich hatte Tränen in den Augen, mein Schambein brannte wie Feuer. Endlich hatte ich die Tür offen und ließ mich auf den Sitz fallen. Eine Welle von Übelkeit überkam mich, und mein Kopf fühlte sich an, als sei er im Begriff, in zwei Teile zu brechen. Fahr los, dachte ich, fahr los, bevor du umkippst. Als ich den Motor anließ, ging mir Sarahs Gesicht durch den Sinn. Noch nie hatte ich so große Sehnsucht nach ihr gehabt, noch nie hatte ich mich derart allein gefühlt. Beim Anfahren rissen die Reifen Teile vom weichen Asphalt los.
    Ich fuhr etwa dreißig Kilometer, blutend wie ein abgestochenes Schwein. Allmählich fing ich an, Sterne zu sehen, mein Kiefer dröhnte wie ein Amboß, und hinter den Schläfen spielten Zimbeln. Unterdessen wurden die Häuser am Straßenrand spärlicher, und die Landschaft hatte sich bald in eine Wüste verwandelt. Ich rechnete damit, jeden Moment von Polizisten oder Soldaten aufgehalten zu werden. Als ich einen hohen Felsblock erspähte, blieb ich in seinem Schatten stehen und betrachtete mein Gesicht im Rückspiegel. Die Hälfte davon war ein blutiger Brei, unter dem keine Konturen mehr zu erkennen waren, dafür hing mir ein längliches Stück Fleisch bis zum

Weitere Kostenlose Bücher