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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Kinn herab; das war meine Unterlippe. Ich unterdrückte einen neuerlichen Anfall von Übelkeit und kramte meine Reiseapotheke hervor, desinfizierte die Wunde, schluckte ein paar Schmerztabletten und befestigte die Lippe mit einem Heftpflaster. Dann setzte ich meine dunkle Brille auf und warf noch einmal einen Blick in den Rückspiegel: der Doppelgänger des Unsichtbaren Mannes.
    Eine Zeitlang schloß ich die Augen und wartete, bis unter meiner Schädeldecke wieder Ruhe einkehrte. Also war man mir den ganzen Weg von Bulgarien her gefolgt, oder aber meine Reiseroute war so vorhersehbar, daß es ein leichtes war, mich hier in Israel aufzuspüren. Was mich freilich nicht wunderte: schließlich brauchte man nur den Störchen zu folgen, um mich zu finden. Was mich hingegen mehr verblüffte, war der Paß der Vereinten Nationen. Ich zog ihn aus der Tasche und blätterte darin. Der Mann hieß Miklos Sikoff. Staatsangehörigkeit: bulgarisch. Alter: 38 Jahre. Beruf:
    Truppenbegleiter. Tatsächlich arbeitete der Killer für Monde Unique und überwachte Transporte zu humanitären Zwecken - Medikamente, Lebensmittel, Kleidung. Die Berufsbezeichnung hatte allerdings noch einen zweiten Sinn: Sikoff war zweifellos Böhms Mann, einer von denen, die entlang der Vogelfluglinie die Störche begleiteten, beobachteten und bewachten oder verhinderten, daß man Jagd auf sie machte, zum Beispiel in Afrika. Ich sah mir die Einreisestempel an: Bulgarien, Türkei, Israel, Ägypten, Mali, Zentralafrika, Südafrika - eine klare Bestätigung meiner Vermutung. Seit fünf Jahren folgte der UN-Agent der Flugroute der Störche, im Osten wie im Westen. Ich schob Sikoffs Paß unter den zerrissenen Einband meines Terminkalenders, dann ließ ich den Motor wieder an und fuhr los in Richtung Jerusalem.
    Eine halbe Stunde durchquerte ich felsige Landschaften. Der Schmerz ließ nach, und die Kühle der Klimaanlage tat mir wohl. Ich hatte nur noch einen Wunsch: in ein Flugzeug zu steigen und so bald wie möglich diesen heißen Boden zu verlassen.
    In meiner Panik hatte ich jedoch die kürzeste Strecke verpaßt und mußte jetzt einen langen Umweg durch die besetzten Gebiete fahren. So kam ich erst gegen sechzehn Uhr in die Gegend von Nablus. Die Aussicht, in meinem Zustand die Militärsperren passieren zu müssen, war wenig verlockend. Bis Jerusalem waren es noch über hundert Kilometer. In dem Moment wurde mir bewußt, daß mir schon seit geraumer Weile ein schwarzer Wagen folgte. Ich beobachtete ihn im Rückspiegel - in der flimmernden Luft schien er zu schweben. Ich fuhr langsamer, und der Wagen kam näher. Es war ein Renault 25 mit israelischem Kennzeichen. Ich wurde noch langsamer, und ein Schock durchfuhr mich, als ich erkannte, wer am Steuer saß: Sikoff. Mit blutüberströmtem Gesicht, ein scharlachrotes Monster, das sich ans Steuer klammerte. Ich legte den dritten Gang ein und gab Gas, und binnen Sekunden war ich auf Höchstgeschwindigkeit. Der Wagen aber war mir immer noch auf den Fersen.
    So fuhren wir zehn Minuten lang. Sikoff versuchte mich zu überholen, und ich rechnete jeden Moment mit einer Salve durch die Windschutzscheibe. Die Glock hatte ich auf den Beifahrersitz gelegt. Auf einmal sah ich fern am Horizont Nablus auftauchen, grau und verschwommen im harten Licht. Sehr viel näher aber befand sich ein Palästinenserlager - ein Straßenschild kündigte es an: Balatakamp. Ich dachte an meine israelischen Kennzeichen und bog von der Hauptstraße zu dem Lager ab. Unter den Reifen wirbelten Staubwolken auf, und ich beschleunigte noch mehr. Nur noch ein paar Meter bis zum Lager. Sikoff folgte mir unverdrossen. Auf einem Dach sah ich einen israelischen Wachtposten mit Fernglas. Auf anderen Terrassen gerieten arabische Frauen in Aufregung und zeigten mit dem Finger auf mich. Aus allen Richtungen rannten Horden von Kindern herbei und sammelten Steine auf. Alles verlief genau so, wie ich gehofft hatte.
    Mit rasendem Tempo fuhr ich durch den Eingang zur Hölle.
    Die ersten Steine trafen mich, als ich in die Hauptstraße einbog. Die Windschutzscheibe barst in tausend Splitter. Links von mir versuchte Sikoff noch immer, sich zwischen meinen Wagen und die Häuserfront zu drängen. Zum erstenmal stießen wir zusammen, und die Wagen prallten von den gegenüberliegenden Hausmauern ab. Direkt vor uns warfen die Kinder immer noch mit Steinen - ich hoffte, sie würden rechtzeitig aus dem Weg gehen, ehe einer von uns sie überfuhr. Der Renault schickte sich erneut

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