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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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auf einem eisernen Bett.
    Ärzte kamen und besahen sich mein Gesicht. Sie unterhielten sich auf französisch, was mich verblüffte, und sprachen von Klammern und Nähen und Anästhesie. Sie hielten mich offenbar für einen unbeteiligten Touristen, der einem Angriff der Intifada zum Opfer gefallen war. Allmählich begriff ich, daß ich mich in einer ambulanten Klinik von Monde Unique befand, fünfhundert Meter von Balatakamp entfernt. Hätten meine Lippen nicht in Fetzen gehangen, ich hätte gelächelt. Verstohlen schob ich meine Waffe unter die Matratze und schloß die Augen, und auf der Stelle umfing mich die Nacht.
    Als ich wieder aufwachte, war ringsum alles still und dunkel, nicht einmal die Umrisse des Zelts vermochte ich zu erkennen. Ich war schweißüberströmt und zitterte vor Kälte; als ich die Augen wieder schloß, kehrten sofort die Alpträume zurück. Ich träumte von einem Mann mit langen, dürren Armen, der mit erbarmungsloser Kaltblütigkeit und konzentriertem Eifer einen Kinderkörper zerteilte. Von Zeit zu Zeit tauchte er seine schwarzen Lippen in die zuckenden Eingeweide. Nie sah ich sein Gesicht, denn er stand halb verborgen zwischen einem Wald aus Gliedmaßen und Rümpfen, die an Metzgerhaken hingen und in derselben Ockerfarbe glänzten wie die lackierten Fleischstücke, die häufig in chinesischen Restaurants zu sehen sind.
    Dann träumte ich von aufplatzendem Fleisch in einem Unterstand mit Wänden aus gebauschten Planen. Von Rajkos Gesicht im Todeskampf, seinem aufgeschlitzten Bauch, seinem bebenden Gedärm. Von dem zerstückelten Ido, seinen bloßgelegten Organen - ein grauenvoller Prometheus, bei lebendigem Leib von Störchen verschlungen.
    Als der Tag anbrach, sah ich, daß in dem weiträumigen Zelt zahllose Betten standen, darin lagen verwundete Palästinenserkinder. Es roch nach Kampfer. In der Ferne hörte ich das Brummen der Stromgeneratoren. Während des Tages wurde mir dreimal der Verband abgenommen, und ich bekam eine Art Auberginenbrei zu essen, dazu einen Tee, der schwarz war wie Kaffee. Mein Mund fühlte sich an wie aus Beton, mein Körper war steif und zerschlagen. Ständig rechnete ich damit, daß Soldaten der UNO oder der israelischen Armee auftauchten, um mich aus meiner Dumpfheit zu reißen und zu verhaften. Aber niemand erschien, und obwohl ich die Ohren spitzte, hörte ich auch niemanden Sikoffs Tod erwähnen.
    Sehr langsam kehrte ich in die Wirklichkeit meiner Umgebung zurück. Die Intifada war ein Krieg der Kinder und Jugendlichen, und ich lag in einer Kinderklinik. In den Nachbarbetten litten halbwüchsige Jungen in stolzem Schweigen, manche schwerstverwundet und dem Tod nahe. Röntgenbilder, die über ihren Betten hingen, zeigten die Katastrophen ihrer geschundenen Körper: gebrochene Gliedmaßen, durchlöchertes Fleisch, entzündete Lungen. Viele Kinder waren auch einfach nur krank - die mangelnde Hygiene in den Lagern fördert Infektionen aller Art.
    Am Spätnachmittag erfolgte ein Angriff. In der Ferne war Geschützlärm zu hören, das Pfeifen der Tränengasbomben und die Schreie der Kinder, die entfesselt und rasend vor Wut durch die engen Gassen von Balatakarnp rannten und Schutz suchten. Kurz darauf traf der Zug der Verwundeten ein. Verschleierte Mütter brachten unter hysterischem Wehklagen ihre Kinder, die bläulich angelaufen waren, husteten und würgten. Angeschossene Kinder in blutgetränkten Kleidern, die sich mit hohlem Blick auf den Tragbahren wanden. Schluchzende Väter, die ihre Söhne an der Hand hielten, auf ärztliche Behandlung warteten oder draußen im Staub nach Rache brüllten.
    Am dritten Tag kam ein israelischer Sanitätswagen, um mich abzuholen. Man wolle mich bis zu meiner Rückführung nach Hause in einem komfortablen Zimmer in Jerusalem unterbringen, hieß es. Ich lehnte ab. Eine Stunde später erschien eine Delegation des Fremdenverkehrsamtes und bot mir bessere Kost, eine bequemere Matratze und alle Arten von Vorteilen an. Wieder lehnte ich ab. Nicht aus Solidarität mit den Arabern, sondern weil dieses Zelt meine einzig mögliche Zuflucht war - meine Glock lag, neu geladen, immer noch unter der Matratze versteckt. Daraufhin brachten mir die Israelis ein Formblatt zur Unterschrift, mit dem ich für alles, was mir im Westjordanland zugestoßen war oder vielleicht noch zustoßen würde, die Verantwortung selbst übernahm. Ich unterschrieb und bat sie, mir dafür einen neuen Leihwagen zu beschaffen.
    Als sie wieder fort waren, wusch ich mich

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