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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Ich brauchte noch zwei weitere Bestätigungen. Ich packte den Diamanten wieder ein und holte aus meiner Tasche Böhms Karteikarten - diese Karten voller merkwürdiger Zahlen, die mir immer ein
    Rätsel gewesen waren, deren Bedeutung ich aber jetzt allmählich zu ahnen begann.
    »Könnten Sie einen Blick auf diese Zahlen werfen und mir sagen, ob sie einen Sinn für Sie haben?« fragte ich.
    Wieder setzte Isaak die Brille auf und las schweigend.
    »Das ist völlig klar«, sagte er schließlich. »Das sind Eigenschaften von Diamanten. Ich habe vorhin die vier Qualitätsmerkmale erwähnt: Gewicht, Farbe, Reinheit, Form. Im Englischen nennt man sie die vier C - carat, colour, clarity, cut ... Hier entspricht jede Zeile einem der Kriterien. Sehen Sie sich zum Beispiel diesen Absatz an. Unter dem Datum 13. 4. 87 steht VVSI, das bedeutet very very small inclusions. Ein außerordentlich reiner Stein also, dessen Einschlüsse nur bei zehnfacher Vergrößerung sichtbar sind. Darunter steht 10 C. Das ist das Gewicht, zehn Karat - ein Karat entspricht 0,20 Gramm. Dann der Buchstabe D, der bedeutet: >vom ersten Wasser<, also vollkommen wasserhell, von außergewöhnlicher Farblosigkeit. Wir haben hier die Beschreibung eines einzigartigen Steins. Und wenn ich mir die Angaben ansehe, dann kann ich Ihnen versichern, daß der Besitzer dieses Schatzes über ein unermeßliches Vermögen verfügt.«
    Meine Kehle war ausgedörrt wie Wüstenerde. Dieses Vermögen, von dem Isaak sprach, war nur die >Ausbeute< eines einzigen Storchs in mehrjähriger Migration. Mir wurde schwindlig, wenn ich an die anderen Karten dachte, die ich in meiner Tasche hatte. Nur ein paar von Böhms Lieferungen. Ein Storch nach dem anderen. Ein Jahr ums andere. Um der letzten Gewißheit willen stellte ich ihm noch eine Frage: »Und das, können Sie mir sagen, was das ist?« Ich reichte ihm eine Karte von Europa und Afrika, durch die sich gepunktete Pfeile zogen. Er beugte sich darüber und sagte nach ein paar Sekunden: »Das könnten die Wege der Diamanten sein, von ihrem Abbauort in Afrika zu den Hauptabnehmerländern in Europa, die sie kaufen oder schleifen. Was ist es denn?« setzte Knicklevitz in spöttischem Ton hinzu. »Die Kette Ihrer Zwischenhändler?«
    »Ja, in gewisser Weise sind das meine Zwischenhändler«, antwortete ich.
    Ich hatte ihm lediglich eine Karte mit der Wanderroute der Störche gezeigt - eine Fotokopie aus einem Kinderbuch, das Böhm mir geschenkt hatte. Ich stand auf. Der Geflügelhenker werkte noch immer in einem See von Blut.
    Isaak erhob sich ebenfalls und kam noch einmal auf meinen Diamanten zu sprechen: »Was haben Sie denn mit Ihrem Stein vor?«
    »Den kann ich Ihnen leider nicht verkaufen. Ich brauche ihn noch.«
    »Schade. Aber die Steine sind ohnehin zu gefährlich.«
    Ich zahlte die Rechnung und sagte: »Isaak, es gibt nur zwei Menschen, die wissen, daß der Diamant sich bei Ihnen befindet: ich und das Mädchen. Mit anderen Worten: der Fall ist erledigt.«
    »Das werden wir sehen. Auf jeden Fall verdanke ich diesen Steinen einen unverhofften jugendlichen Elan, einen kurzfristigen neuen Schwung auf meine alten Tage.«
    Er winkte mir kurz mit der Hand. »Schalom, Louis«, sagte er und war bald verschwunden.
    Ich stürzte mich in die Menge, irrte durch schmale Gassen entlang den Läden und Werkstätten und versuchte mich zu orientieren. Meine Gedanken rasten durcheinander, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Außerdem beunruhigte mich jetzt ein anderes Gefühl, oder vielmehr ein Eindruck, der mich nicht losließ, seitdem ich mich in der Menschenmenge befand: das Gefühl, verfolgt zu werden.

24
     
    Irgendwann gelangte ich wieder zur Herzl-Straße und stand bald darauf auf dem Atzma’ut Square. Bis zu meinem Wagen war es nicht mehr weit, aber ich hielt es für günstig, mich noch eine Weile unter Menschen aufzuhalten. Ich ging zum Strand hinunter und schmeckte den Wind, der in langen, salzigen Böen vom offenen Meer hereinwehte.
    Ich drehte mich um und musterte die Passanten, starrte prüfend in die Gesichter, aber mir fiel nichts Verdächtiges auf. Ein paar Autos glitten durch das grelle Licht, die hohen Fassaden der Wohnhäuser blitzten hell wie Spiegel. Auf der anderen Straßenseite, direkt vor dem Meer, kauerten die Alten fröstelnd in ihren Liegestühlen. Ich starrte auf die lange Reihe gekrümmter, schwerfälliger Rücken und wunderte mich über die Absurdität ihrer Kleidung: es herrschten gut fünfunddreißig

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