Der Flug der Stoerche
und betrachtete mein Gesicht in dem halbblinden Spiegel. Meine Haut war noch dunkler, ich selbst um einiges magerer geworden - über den Wangenknochen spannte sich die Haut wie ein Skalp.
Vorsichtig löste ich den Verband. Unmittelbar unter der Unterlippe verlief eine lange, fädengespickte Narbe, die aussah wie aus Stacheldraht und buchstäblich einen zweiten Mund bildete. Ich dachte über dieses neue Gesicht nach. Dann dachte ich, daß meine Persönlichkeit sich ständig veränderte, und empfand dabei einen obskuren, fiebrigen und selbstmörderischen Optimismus. Im nachhinein kam mir meine Abreise am 19. August wie eine innere Apokalypse vor. Binnen weniger Wochen war ich ein namenloser Reisender geworden, ohne jede Bindung, der sich schrecklichen Gefahren aussetzte, aber sicher war, durch die Wirklichkeit, die er jeden Tag entdeckte, dafür belohnt zu werden. Im übrigen hatte es Sarah ja durchaus treffend formuliert: ich war >niemand<. Meine Hände ohne Fingerabdrücke waren zum Symbol dieser neuen Freiheit geworden.
An dem Abend dachte ich über Monde Unique nach. Meine Verdächtigungen hatten ihre Grundlage verloren. In den wenigen Tagen in ihrer Obhut war ich in der Lage gewesen, die Organisation einzuschätzen: es gab keinerlei Spuren von Manipulationen, Zwangsoperationen oder Organhandel. Die Leute von Monde Unique waren aufopferungsvolle Ärzte, die ihrem Beruf mit Eifer und Engagement nachgingen. Obwohl die Organisation mir auf meinem Weg immer wieder begegnet war, obwohl Sikoff angeblich für sie gearbeitet hatte, obwohl Max Böhm ihr aus irgendeinem rätselhaften Grund sein Vermögen hinterlassen hatte, führte die Hypothese von einem Organschmuggel nirgendwohin. Trotzdem bestand eine Verbindung - dessen war ich mir ganz sicher.
26
Die Fäden zog mir am 10. September Christian Lodemberg, einer der Schweizer Ärzte von Monde Unique, den ich im Lager kennengelernt hatte. Sofort artikulierte ich ein paar Worte und war überrascht, als sie wider Erwarten klar und verständlich aus meinem teigigen Mund kamen. Ich hatte die Sprache wiedergefunden. Am selben Abend erklärte ich Christian, ich sei Ornithologe und auf der Suche nach Vögeln. Christian sah mich skeptisch an.
»Gibt es hier Störche?« fragte ich ihn.
»Störche?«
»Ja, die schwarzweißen Vögel mit den roten Schnäbeln und Beinen ...«
»Ach .« Christian sah mich mit seinen hellen Augen an und suchte vermutlich einen zweiten Sinn hinter meinen Worten. »Nein, in Nablus gibt es keine Störche. Dazu mußt du nach Bet She’an im Jordantal.«
Ich erklärte ihm den offiziellen Grund meiner Reise und erzählte ihm von der Satellitenüberwachung der Störche in
Europa und Afrika. »Kennst du zufällig einen Milos Sikoff?« fragte ich dann. »Das ist einer von der UNO.«
»Der Name sagt mir nichts.«
Ich reichte Christian den Paß des Killers.
»Doch, den kenn’ ich«, sagte er, als er das Foto betrachtete. »Wie kommst du zu seinem Paß?«
»Was weißt du über ihn?«
»Nicht viel. Er hing manchmal eine Zeitlang hier herum. Ein zwielichtiger Typ.« Christian verstummte und sah mich an. »Er ist am selben Tag umgebracht worden, an dem du den Unfall hattest.«
Christian gab mir den metallisch schimmernden Paß zurück.
»Er hatte kein Gesicht mehr. Weggeschossen. Mit sechzehn Kugeln Kaliber fünfundvierzig, abgefeuert aus unmittelbarer Nähe. Ich hab’ noch nie ein derartiges Gemetzel gesehen. Eine 45er ist hierzulande keine gebräuchliche Waffe. Tatsächlich ist die einzige 45er, die ich kenne, die Pistole, die du unter deiner Matratze versteckst.«
»Woher weißt du das?«
»Kleine private Durchsuchung.«
»Und Sikoff, wann habt ihr den gefunden?«
»Eigentlich gleichzeitig mit dir. Aber in dem Chaos hat euch keiner miteinander in Zusammenhang gebracht. Zuerst hat man an eine Abrechnung zwischen Palästinensern geglaubt. Aber dann erkannte jemand die Kleider, die Waffe, alles, und schließlich hat die Analyse der Fingerabdrücke - bei Monde Unique sind wir alle registriert - die Identität des Bulgaren bestätigt. Es gab eine Autopsie, und dabei wurden mehrere Projektile in der Schädeldecke gefunden. Ich habe den Bericht gelesen - ein vertrauliches Dokument ohne Namen und ohne Nummer. Mir war klar, daß da irgendwas faul war. Schon der Tod des Mannes war rätselhaft. Und dann war die Leiche dieses Bulgaren, von dem keiner genau wußte, was er eigentlich getrieben hat. Dem Schin Bet haben wir erklärt, es handle sich
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