Der Flug der Stoerche
Gefühllosigkeit.
Auf einmal blieb ich stehen. Ich war vom Flußufer abgekommen und eine lange, schlechtbeleuchtete Straße entlanggegangen. Ich hob den Blick und starrte auf ein Schild, das an einem Zaun hing und den Namen der Straße verkündete, und ich begann am ganzen Körper zu zittern, Avenue de France. Unbewußt, unaufhaltsam hatten meine Schritte mich zum Ort der Tragödie gelenkt - dorthin, wo meine Familie am Silvesterabend des Jahres 1965 von einer wahnsinnigen Mörderbande massakriert worden war.
32
Am nächsten Morgen, als ich unter einem Sonnenschirm beim Frühstück saß, sprach mich jemand an: »Monsieur Louis Antioche?«
Ich sah auf. Vor mir stand ein Mann um die Fünfzig, klein, untersetzt und ganz in Khaki gehüllt, und verströmte eine Aura von unbestreitbarer Autorität. Ich dachte an Max Böhm, seine Korpulenz, seine Art sich zu kleiden, und fand, daß die beiden Männer einander recht ähnlich waren. Mit dem einzigen Unterschied, daß mein Gesprächspartner so schwarz war wie ein englischer Regenschirm.
»Ja, das bin ich. Und Sie?«
»Joseph M’Konta. Der Vater von Gabriel, von der Sicamine.«
Sofort stand ich auf und bat ihn, Platz zu nehmen. »Ja, natürlich«, sagte ich. »Bitte setzen Sie sich.«
Joseph M’Konta ließ sich nieder und faltete die Hände über dem Bauch. Er sah sich neugierig um, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Sein Gesicht war breit und so flach wie die Nase, und seine Augen blickten feucht, wie von Zärtlichkeit verschleiert. Aber sein Mund war verzogen zu einer Grimasse des Abscheus.
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Tee?«
»Kaffee, danke.«
Auch Herr M’Konta hatte die Eigenheit, mich aus dem Augenwinkel zu mustern. Der Kaffee wurde serviert, und nach dem Austausch der üblichen Belanglosigkeiten über das Land, die Hitze und meine Reise kam Joseph in hastigem Ton zur Sache: »Sie wollen also etwas über Max Böhm wissen?«
»So ist es.«
»Warum interessieren Sie sich für ihn?«
»Max war ein Freund von mir. Ich habe ihn kurz vor seinem Tod in der Schweiz kennengelernt.«
»Max Böhm ist tot?«
»Ja, vor einem Monat ist er an einem Herzinfarkt gestorben.«
Die Nachricht schien nicht zu verwundern. »Also ist das kleine Uhrwerk doch zu Bruch gegangen . « Er dachte eine Weile nach, dann fragte er: »Was wollen Sie wissen?«
»Alles. Was er in Zentralafrika getrieben hat, wie er gelebt hat, warum er abgereist ist.«
»Ermitteln Sie in irgendeiner Sache?«
»Ja und nein. Ich möchte ihn eigentlich nur besser kennenlernen, posthum. Das ist alles.«
Mit argwöhnischer Miene fragte M’Konta: »Sind Sie Polizist?«
»Absolut nicht! Alles, was Sie mir sagen, bleibt unter uns. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Sind Sie bereit, sich erkenntlich zu zeigen?«
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, woraufhin M’Konta erklärte: »Mit ein paar Geldscheinen, versteht sich.«
»Das kommt darauf an, was Sie mir zu sagen haben«, gab ich zurück.
»Na, ich hab’ den alten Max gut gekannt .«
Nach etlichen Verhandlungen vereinbarten wir einen >Freundschaftspreis<, und von dem Moment an duzte mich der Mann. Er war äußerst redegewandt, die Worte sprudelten aus ihm hervor wie Luftblasen vom Grund eines Sees.
»Chef, dieser Max Böhm war ein komischer Kauz . Übrigens hat ihn hier keiner Böhm genannt ... er hieß Ngakola ... Vater der Weißen Magie .«
»Wie kam er zu dem Namen?«
»Böhm hatte Kräfte . versteckt unter seinen Haaren .
Seine Haare waren ganz weiß . und wuchsen senkrecht zum Himmel . wie ein Wald von Kokospalmen, verstehst du? .
Daher hatte er seine Macht . er hat Gedanken gelesen . hat alle Diamantendiebe entdeckt . immer . ihm widerstand keiner . keiner . er war ein starker Mann . sehr mächtig . aber auf der Seite der Nacht.«
»Was heißt das?«
»Er hat in der Dunkelheit gelebt . sein Geist . sein Geist lebte in der Dunkelheit ...« Abwesend nippte M’Konta an seinem Kaffee.
»Wie hast du Max Böhm kennengelernt?« fragte ich.
»Das war 1973 ... vor der Trockenzeit ... Max Böhm kam in mein Dorf, nach Bagandou, das liegt direkt am Waldrand ... Bokassa hat ihn geschickt . er kam als Aufseher über die Kaffeeplantagen . Damals wurden die Plantagen von Dieben geplündert . Böhm hat ihnen innerhalb von ein paar Wochen das Handwerk gelegt.«
»Wie hat er das gemacht?«
»Jeden Dieb, den er erwischte, schlug er zusammen und schleppte ihn auf den Dorfplatz . und dort nahm er einen Stichel - so einen, wie man
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