Der Flug des Falken
Sicher war die Karte ohne jeden Belang. Vielleicht hatte sie irgendein dummer Streifenpolizist dort vergessen, der als einer der Ersten am Tatort gewesen war.
Er griff zur Fernbedienung. Die Zeit reichte bestimmt noch, sich ein weiteres Mal die Bilder der aufgebrachten Menschenmenge anzusehen, die Arminius Hermann die Fenster einwarf, bevor er sich wieder zu der erschöpfenden Pflicht schleppen musste, seiner Welt bei der Erholung von der Invasion zu helfen.
* * *
»Countess Campbell?«
Auf einem luftigen Krankenhausflur, der von hohen Fenstern entlang einer Wand hell erleuchtet war, blieb Tara Campbell, die gerade nachdenklich vor sich hin gegangen war, stehen und drehte sich zu Legat Stanford Eckard um, der schnell näher kam.
»Legat«, sagte sie lächelnd. »Einen schönen Tag wünsche ich.«
»Ihnen ebenfalls, Countess. Es freut mich, Sie hier zu finden.«
Sie murmelte freundlich. Sie musste immer noch ständig an Paul denken. Wie er gerade rechtzeitig auf dem Schlachtfeld aufgetaucht war, um sie zu retten... das war ein ebenso großes und scheinbar unlösbares Rätsel wie die Frage, woher er gewusst haben konnte, wie man einen BattleMech steuerte - oder, wie er überhaupt an einen gekommen war.
In den letzten Wochen waren sie einander nahe gekommen, sehr nahe. Er war der erste Mann gewesen, den die Countess so nahe an sich hatte herankommen lassen, seit... seit Northwind. Jetzt aber war er tot, gestorben bei ihrer Rettung. Und sie trauerte um ihn.
Und um verlorene Möglichkeiten.
Sie schüttelte die Trauer ab. »Was kann ich für Sie tun, Legat?«, fragte sie.
Er lächelte. »Sie haben schon mehr getan, als sich mit Worten ausdrücken lässt. Ich habe Ihnen schon einmal dafür gedankt, dass Sie Skye gerettet haben. Ich danke Ihnen jetzt noch einmal, und ich plane, es auch in Zukunft zu tun.« Seine Stimme wurde ernst. »Ich habe einen Bericht vom Republikanischen Geheimdienst erhalten. Unter den gegebenen Umständen bin ich nicht sicher, dass er sie über den normalen Dienstweg erreichen würde, auch
wenn er ohne Zweifel für Sie bestimmt ist.«
Er reichte ihr ein dünnes, fahlgelbes Blatt Papier. Mit fragendem Blick nahm sie es und las.
Ihr Blick zuckte über Streng geheim, Nur zur Ansicht sowie verschiedene Übermittlungscodes und Datumsstempel hinweg zum interessanteren Teil: einer Warnung, dass sich ein Agent des lyranischen Geheimdienstes LNC mit unbekanntem Auftrag auf dem Weg nach Skye befand oder bereits eingetroffen war. Gefahrenpotential: gering. Haus Steiners Haltung zur Republik war neutral bis freundlich, bla bla bla. Aber Vorsicht blieb geboten, da man nie sicher sein konnte, was das LNC plante.
Obwohl seine tatsächliche Identität unbekannt blieb, war dieser Agent bei allen Spionageabwehrdiensten der Inneren Sphäre als Herzbube bekannt. Manche Sicherheitsexperten der Republik, so der Bericht, bezweifelten seine reale Existenz und hielten ihn für ein Phantom, vom Lyranischen Nachrichtencorps erfunden, ein Schreckgespenst um die Capella-ner, die Mariks und natürlich die Crucier zu verunsichern. Mehrere als halbwegs zuverlässig eingeschätzte Sichtungen beschrieben ihn jedoch als einen Mann von asiatischer Abstammung, Mitte dreißig, mittelgroß, athletischer Körperbau, ohne weitere besondere Merkmale...
»Countess?« Das ebenfalls asiatische Gesicht des Legaten spiegelte die Verwirrung in seiner Stimme wider. »Ist alles in Ordnung?«
Sie sah zu ihm hoch, blinzelte, um die plötzlich aufwallende Feuchtigkeit in ihren Augen zu unterdrücken. Aber dabei lächelte sie.
»Alles bestens, Legat Eckard«, antwortete sie. »Es sind nur emotionale Nachwirkungen des gestrigen Tages.«
Eckard nickte. »Ich verstehe«, sagte er, obwohl offensichtlich war, dass er nicht das Mindeste verstand.
Plötzlich erinnerte sie sich an Polizeiberichte aus Solvaigs Wohnung und an die ungeklärte Herkunft einer Spielkarte: eines Herzbuben.
Paul, du Bastard, dachte sie. Aber der Beschimpfung fehlte es an Nachdruck. Du hast mich angelogen.
Trotzdem wusste sie, dass er sie - im Gegensatz zu einem gewissen anderen - nie verraten hatte.
Ebenso wenig, wie er am Tag vor dem Priesterseminar gestorben war, als sein gestohlener Feuerfalke IIC explodierte. Dessen war sie sich jetzt völlig sicher, ohne es rational begründen zu können. Seine Leiche hatte man nicht gefunden. Bis jetzt war nichts daran geheimnisvoll oder überraschend gewesen, nur ein weiterer Stein in der erdrückenden Last der Depression,
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