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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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ich.

    In dieser Stunde im Zug denke ich gründlich über mein Leben nach. Ich möchte auch für mich eine Antwort finden, was ich mir von der Zukunft wünsche. Ist es meine eigene Entscheidung, mit höchstmöglichem Prestige zu debütieren, mit einem Programm, das Selma Lynges Handschrift trägt, und mit Zuhörern aus ihrem prominenten Kreis? Ja, denke ich. Das ist es. Ist es daneben meine Entscheidung, mit einer siebzehn Jahre älteren Frau zusammenzuleben, die manischdepressiv ist, die mehrmals in ihren Leben suizidal war, die überdies Witwe ist und ihre einzige Tochter verloren hat? Ja, denke ich, das ist es.
    Und als ich in dieser Novembernacht am Bahnhof Oslo West ankomme, weiß ich, daß diese schickalsträchtige Wahl mein Leben prägen wird.
    Das Bild geht nicht aus meinem Kopf. Marianne, die auf dem Schemel steht. Die das Kleid ausgezogen hat, damit der Strick besser am Hals anliegt. Ich kann das verzerrte Gesicht nicht vergessen, die blasse Haut, den weißen BH, den zornigen, verzweifelten Blick, weil ich sie daran hindere, sich umzubringen.
Sinfonien. Niemandsland. Krähen
    Ich bin im Niemandsland. Aber da sind auch die Sinfonien. Marianne hat mir ein Geschenk gemacht, denke ich. Das Alleinsein. Ich werde nicht mehr von ihr abgelenkt. Die Tage und Nächte gehören mir allein. Wozu soll ich sie benutzen?
    Ich übe meine Etüden. Perfektioniere die Lauftechnik.
    Aber wenn der Nachmittag kommt, wenn die sinkende Wintersonne direkt auf das große Panoramafenster scheint, lege ich die Sinfonien auf. Bror Skoogs Sinfonien. Die großen, berühmten Einspielungen. Karajan, Maazel und Solti, Kubelik und Jochum, Ormandy und Bernstein. Für jeden Tag eine Sinfonie. Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Bruckner, Sibelius, Nielsen.
    Und ich tauche tief ein in Mahler. Die langsamen Sätze. Zeit für Langsamkeit, denke ich. Es ist alles viel zu schnell gegangen.

    Vor dem Fenster sehe ich die Tannen, sehe die Krähen, die fast immer in den Ästen hocken. Ich habe keine Ahnung, was sie da machen. Ich sitze allein im Wohnzimmer und fühle mich verloren. Ich höre den Schlußsatz von Mahlers dritter Sinfonie. Beethoven schrieb »An die Freude«. Das ist eine Ode an die Liebe. Ich erinnere mich an eine Episode aus der Kindheit. Meine Mutter sagte, obwohl ich schon im Bett lag: »Jetzt mußt du kommen, Aksel, denn jetzt läßt die Krähenmutter ihre Jungen frei!« Cathrine stand bereitsaufgeregt hinter dem Haus. In den Bäumen ging es lebhaft zu. Eine ganze Familie befand sich in Auflösung. Die Krähenmutter lockte und schützte gleichzeitig mit dem Gekrächze ihre Jungen, die in den Baumkronen flogen. Die ersten Flügelschläge allein in der Welt. Mutter begann zu weinen. Ich verstand damals nicht, warum. Aber jetzt, allein vor den perfekten Lautsprechertürmen mit Mahlers dritter Sinfonie mit Bernstein, glaube ich, sie zu verstehen. So viel Liebe. Bin ich stark genug?
Iselin Hoffmann
    Schon nach wenigen Tagen habe ich herausgefunden, wer diese Iselin ist. Dr. Hoffmann, Hautärztin. Von meiner Mutter oder meinem Vater habe ich die unangenehme Eigenschaft geerbt, sehr direkt zu sein. Besonders, wenn ich zornig bin. Aber ich bin nicht zornig, als ich Iselin Hoffmann anrufe. Ich sage nur meinen Namen.
    »Ich weiß, wer du bist«, sagt sie rasch. »Was willst du?«
    »Ich möchte dich treffen.«
    »Ja. Wir können uns treffen. Wir sollten uns treffen«, sagt sie.

    Wir treffen uns im Wesselstuen. Ein gediegenes Hansa-Restaurant oben beim Storting. Es war ihr Vorschlag.
    Wir haben uns für diesen Abend verabredet. Ich habe einen Tisch bestellt. Als ich mit dem Ober rede, weise ich darauf hin.
    »Ihr Gast sitzt bereits und wartet«, sagt er höflich und zeigt mir den Weg durch das Lokal.
    Ich spähe hinüber zu den Tischen. Wer kann es sein? Die hübsche Dunkle, die allein in der Ecke sitzt? Die ausgeflippte Blonde am Fenster? Nein, keine von beiden. Der Ober führt mich weiter bis zum hintersten Tisch.Dort sitzt Iselin Hoffmann und hat bereits ein Bier bestellt.
    »Hier ist Ihr Gast«, sagt der Ober höflich. »Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?«
    »Eine Cola bitte«, sage ich.

    Iselin Hoffmann.
    Wie häßlich sie ist, denke ich. Schweinsaugen. Ein großes, rotes Gesicht. Warzen auf der Stirn. Ekzeme um den Mund. Und dabei ist sie Hautärztin.
    Sie ist klein und dick. Sie trinkt das Bier in großen Schlucken, kümmert sich nicht um den Schaumbart. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß

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