Der Fluß
Es sind keine anderen Menschen zu sehen, außer einer Frau, die durch den Eingangsbereich fegt und in einem Gang verschwindet.
Die Dame an der Rezeption notiert meinen Namen sowie Datum und Uhrzeit, dann bittet sie mich, zu warten.
Ich setze mich auf ein altmodisches, rotes Sofa.
So still, denke ich. Fast wie im Elvefaret, wenn ich keine Musik spiele.
Ich warte darauf, daß sie in einem der beiden Gänge auftaucht, aber es kommt ihre Ärztin, eine Frau ohne Make-up in Mariannes Alter, mit festem Händedruck und direktem Blick. Sie sagt ihren Namen, den ich aber nicht behalte. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.
»Setzen wir uns einen Augenblick«, sagt sie. »Es gibt ein paar Dinge, die du wissen solltest, bevor du sie triffst.«
»Na gut«, sage ich.
»Marianne ist sehr eingenommen von dir«, sagt die Ärztin. »Sie spricht oft von dir. Und dabei läßt sie ein Problem nicht los. Sie will, daß du von ihr befreit wirst. Ja, siebenutzte diesen Ausdruck. Sie ist davon überzeugt, daß sie für dich ein Unglück ist.«
»Das kann sie nicht allein bestimmen«, sage ich.
Die Ärztin nickt. »Nein, das ist wahr. Aber sie hat jetzt vieles, worüber sie nachdenkt. Sie ist hier zur Behandlung. Sie bekommt Medikamente. Keine Angst, wir wissen, was wir tun. Ihre Persönlichkeit wird dadurch nicht beeinträchtigt, falls du das meinst. Aber wir versuchen, die Signale, die sie aussendet, zu deuten. In ihren Augen bist du sehr jung, umgekehrt fühlt sie sich alt, nicht verwunderlich nach all dem, was sie erleben mußte. Sie liebt dich. Sogar sehr. Gleichzeitig hat sie ein Schuldgefühl, daß sie dich in diese Situation gebracht hat. Was die Gefühle zwischen euch betrifft, da will ich mich nicht einmischen. Damit habe ich nichts zu tun. Ich möchte dich nur darauf vorbereiten, daß sie eure Beziehung ernsthaft klären will.«
Ich spüre, wie mich eine Art Müdigkeit überfällt. Und zugleich Wut. Gibt es denn niemanden, der mich ernst nimmt? Hält man mich für so labil und unzuverlässig? Die Ärztin zwingt mich, darüber nachzudenken, genauso wie Ida Marie Liljerot am Abend vorher. Ich habe die Möglichkeit, jetzt Schluß zu machen, einen anderen Weg in meinem Leben einzuschlagen. Marianne ist in Behandlung. Sie hat Menschen, die sich um sie kümmern, jeden Tag vierundzwanzig Stunden. Und als die Ärztin aufsteht, um Marianne zu holen, würde ich am liebsten heulen, weil dieser Ausweg undenkbar ist. Ohne Marianne Skoog kann ich nicht leben.
Dann kommt sie. Glücklicherweise allein. Marianne. In Jeans und hohen Winterstiefeln. Palästinenserhalstuch und grüner Dufflecoat. Das Haar zum Pferdeschwanz zusammengefaßt, so daß ihre schöne Stirn sichtbar ist. Sie küßt mich rasch und direkt auf den Mund, blickt mir fast munterin die Augen, obwohl ihre Haut trocken und ungesund aussieht und ich tief in ihren Augen sehe, daß es ihr schlechtgeht.
»Da bist du ja, mein Junge.«
»Alles Gute zum Geburtstag«, sage ich und übergebe ihr den Kuchen.
Sie fängt an zu lachen. Ich schmelze innwendig. Ihr Lachen klingt noch wie früher.
»Du hast mir sogar Kuchen mitgebracht!« sagt sie.
»Ja, aus Halvorsens Konditorei. Ich habe auch Champagner dabei. Darfst du denn Alkohol trinken?«
»Eigentlich nicht«, flüstert sie, »aber wir können es nachher in meinem Zimmer machen. Ich brauche es wirklich!«
»Ist es so schlimm hier?«
»Nein, nicht schlimm. Aber viele seltsame Regeln. Ich bin es gewohnt, die Regeln selbst festzulegen. Diagnosen zu stellen.«
»Haben sie schon eine Diagnose?«
»Ach, ich weiß schon, worauf sie sich einigen werden. Manisch-depressiv. Mir ist das ziemlich egal. Gehen wir jetzt ein paar Schritte?«
Der Kuchen bleibt an der Rezeption liegen. Den Champagner habe ich in der Tasche versteckt. Es ist ungewohnt für mich, wie offen sie mit der Diagnose umgeht. Als sei es für sie selbstverständlich, mir zu sagen, daß sie krank ist. Das war vorher nicht so. Aber es gefällt mir, obwohl es mich gleichzeitig verunsichert. Der Wechsel ist so extrem. Und was bedeutet eine solche Diagnose eigentlich? Ist sie krank? Ernsthaft krank? Ist sie jetzt krank, wenn sie mit mir auf dem frisch geräumten Weg wischen den Tannenbäumen geht und die Wintersonne auf den weißen Schnee scheint? »Wie läuft es zu Hause?« sagt sie und nimmt meine Hand, als sei alles wie früher.
»Gut«, sage ich. »Aber einsam. Du fehlst mir.«
»Wirklich?« sagt sie und dreht sich bereits nach zweihundert Metern eine
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