Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
Zigarette. So ist vieles beim alten geblieben, denke ich.
    »Ja«, sage ich.
    »Und das verbotene Zimmer, bist du hinein gegangen?«
    »Nein«, sage ich.
    »Du lügst«, sagt sie und zieht den Rauch tief in die Lungen. »Natürlich bist du hineingegangen. Jeder normale Mensch hätte sich, nach allem, was geschehen ist, dort umgesehen. Kannst du nicht zugeben, daß du dort warst?«
    »Ich bin hineingegangen.«
    »Gut«, sagt sie. »Dann hast du die Epikrisen gelesen. Dann weißt du, wie es mit mir steht. Dann solltest du, wenn du der aufgeweckte Junge bist, für den ich dich halte, Verstand genug besitzen, wegzukommen von mir, dieser sechsunddreißigjährigen morschen Schaluppe, bevor es zu spät ist.«
    »So etwas darfst du nicht sagen!« sage ich zornig.
    Sie wirft mir einen gequälten Blick zu, hellhörig für das, was ich sagen will.
    »Entschuldigung«, sagt sie still. »Ich wollte nicht böse sein. Ich möchte nur ausdrücklich betonen, daß du dich frei fühlen sollst. Ich werde hier drei Monate bleiben, auch wenn es mir wahrscheinlich sauer ankommen wird. Aber es gibt nichts Schlimmeres als Ärzte, und ich kann mich selbst nicht mehr von außen sehen. Ich werde es also akzeptieren. Wichtiger ist, daß du uns von außen sehen kannst und die richtigen Schlüsse ziehst.«
    »Ich sehe uns nur von innen«, sage ich. »Ich kenne keine andere Perspektive.«
    Sie fällt mir um den Hals. Drückt mich an sich. Erregt mich wieder, obwohl jetzt für so etwas nicht der richtige Zeitpunkt ist.
    »Ich wollte nur sagen, daß du mich nie verlassen darfst«, sagt sie. »Aber ich bin nicht in einer Situation, in der ich das sagen kann. Erst seit du von mir weg bist, begreife ich, was du mit mir gemacht hast. Du hast ein gewaltiges Stück meiner Seele verschlungen.«
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich vergrabe mich in ihrer Halsgrube, rieche den Duft ihres Haares, ihrer Haut und denke, daß sie ja versucht hat, mich zu verlassen. Aber das kann ich ihr trotzdem nie sagen. Außerdem ist es nicht wahr. Der einzige, den sie in jener Nacht verlassen wollte, war sie selbst.

    Wir gehen zu einem kleinen Pavillon unweit einer Brücke. Es ist so melancholisch hier oben, denke ich. Ein Park für all die Kranken. Jetzt sehe ich andere Gestalten, Silhouetten in der Sonne. Alle gehen langsam. Keiner geht schnell.
    »Ich soll dich von deiner Mutter grüßen«, sage ich.
    »Herrgott noch mal, hast du sie aushalten müssen!?«
    »Beruhige dich. Sie ist eine wunderbare Frau.«
    »Was wollte sie?«
    »Sie wollte sichergehen, daß ich es ernst meine.«
    »Ernst, womit?«
    »Mit dir.«
    Sie schnaubt. »Du meine Güte. Mütter eben!«
    Ich lächle. Ihre Stimme wird so jungmädchenhaft.
    »Sie hat es nur gut gemeint«, sage ich. »Sie liebt dich. Das ist doch kein Verbrechen?«
    Marianne drückt rasch meine Hand.
    »Ich liebe sie auch«, versichert sie.

    Sie soll nicht das Gefühl haben, daß sie sich mir zuliebe verstellen muß, denke ich. Sie muß nicht so tun, als sei sie gesünder, als sie ist. Das ist ja so unheimlich. An dem Abend bei Selma und Torfinn Lynge war sie nicht gesund. Aberkeiner hat es gemerkt. Wir erkannten nicht, daß sie krank war. Obwohl, war sie krank? Ist es eine Krankheit, sich das Leben nehmen zu wollen? Plötzlich denke ich daran, was mir Torfinn Lynge in seiner lächerlichen akademischen Sprache sagen wollte, eine Fragestellung, die mich interessieren sollte, was mich zu diesem Zeitpunkt aber überforderte: »Warum kann die Neurose nicht die Ursache dafür sein, daß der Patient aufgrund seines hochdifferenzierten Nervensystems und seiner traumatischen Erlebnisse einen tieferen sachlichen Einblick in die Umstände menschlichen Lebens gewinnt, sowohl partiell wie metaphysisch betrachtet?« Und ich habe ihn gefragt, ob die Depression eine gesunde Reaktion sei. Worauf er geantwortet hat: »In gewisser Hinsicht.«

    Ich gehe Hand in Hand mit Marianne Skoog. Wir haben jetzt einen Pakt. Ich bin mit einem Versprechen hierhergekommen. Ich werde sie nicht verlassen. Will sie nicht verlassen. Wir gehen eine Stunde auf dem winterlichen Weg. Wir begegnen kaum anderen Menschen. Das Leid muß irgendwo eingesperrt sein, denke ich. Und wir reden nicht mehr, gehen nur still nebeneinander. Obwohl ich sie gerne einiges fragen würde. Was sie sich dabei dachte, als sie weglief, auf den glatten Steinen über den Fluß sprang, den Schal verlor, den Strick fand und damit in den Keller ging, als sie sich auf den Schemel stellte. Mir

Weitere Kostenlose Bücher