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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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wird schwindlig, wenn ich mir vorstelle, was als nächstes hätte passieren können. Daß sie da hätte hängen können. Daß sie hätte tot sein können. Daß ich sie hätte abschneiden müssen.
    Sie war dazu bereit.
    Jetzt geht sie ruhig neben mir im Neuschnee.

    Es wird Abend. Bald fahren der Bus und anschließend der Zug zurück nach Oslo. Ich sitze in ihrem Zimmer. Es istklein und spartanisch. Ein Waschbecken. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Bett. Ein Nachttisch mit einer Bibel.
    Ich sitze auf dem Bett. Sie sitzt auf dem Stuhl. Wir verspeisen jeder ein Stück Kuchen. Wir trinken Champagner aus Milchgläsern.
    »Wir könnten miteinander schlafen«, sagt sie, »aber ich glaube nicht, daß das so gut ist.«
    Ich merke, daß ich wütend werde. »Denkst du, ich bin nur deshalb mit dir zusammen?«
    Sie wirft mir einen kurzen, fast ängstlichen Blick zu. »Ich weiß nicht. Du bist so jung. Ich weiß, wie das in deinem Alter ist. Außerdem mache ich es gerne mit dir.«
    »Reden wir nicht mehr darüber«, sage ich. »Nicht so. Und wenn wir nie mehr miteinander schlafen könnten, würde ich dich trotzdem nicht verlassen.«
    »Sei vorsichtig. Du weißt nicht, was du sagst«, lacht sie.

    Sie sitzt neben mir auf dem Bett. Nahe bei mir.
    »Jetzt müßten wir Joni Mitchell hören können«, sage ich. »Ja, das wäre schön.«
    »Geht es dir gut hier? Muß ich Mitleid mit dir haben?«
    »Es geht mir gut«, sagt sie. »Aber du kannst mich auch ein bißchen bemitleiden. Es hat so lange gedauert.« Sie dreht sich zu mir. Das Gesicht ist müde. »Hast du alle Epikrisen gelesen?«
    »Nein«, sage ich verlegen, weil sie mich daran erinnert, daß ich ein Versprechen gebrochen habe. »Am schlimmsten fand ich die Bilder, die in der Schreibtischschublade liegen.«
    »Hast du die auch gesehen?« sagt sie erschrocken. »Das tut mir leid. Die hatte ich fast vergessen.«
    »Macht nichts. Ich bin froh, daß ich sie gesehen habe. Das Bild von Bror Skoog ist entsetzlich. Aber das Foto von Anja wirkt …«
    »Ja, wie wirkt es?« Sie schaut mich gespannt an.
    »Ich weiß nicht«, sage ich. »Versöhnlich? Dieser letzte Blick, er ist so ergreifend. Sie schaut mit den Augen des Todes und ist zugleich auf wunderbare Weise lebendig.«
    Marianne nickt. »Diese Aufnahme von Anja ist für mich vielleicht das schönste Porträt von ihr. Das wage ich natürlich niemandem zu erzählen.«

    »Wie verlaufen deine Tage?« frage ich.
    »Hier herrscht knallharte Disziplin. Nein, ich übertreibe. Es gibt zwar viele Therapien, es wird aber auch viel geraucht und Kaffee getrunken. Mir fehlt Joni Mitchell. Hier spielt man christliche Lieder. Aber ich fange an, die Melodien zu mögen. ›O bleib bei mir‹ ist nicht so schlecht. ›Nähere dich, mein Gott‹ ist auch ziemlich stark. Und seit ich die Texte lese, erschließt sich mir ein anderes Bild vom Leben und vom Sinn des Lebens, als ich das bisher hatte. Weißt du, Aksel, ich habe einmal zu dir gesagt, ich sei fest überzeugt, daß es Anja und Bror nicht mehr gibt, daß sie für immer weg sind. Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Es gibt kleine Zeichen. Nicht, daß ich jetzt anfangen würde, bigott zu werden und verrückt im Kopf. Aber ich denke mehr und mehr an sie wie an Lebende, wie an Gesprächspartner. Es war so dunkel in mir, als sie einfach tot waren. Jetzt lebe ich in der Hoffnung, sie einmal wiederzusehen.«
    »Aber ich hoffe, daß das noch lange dauert bis dahin.«
    »Keine Angst«, sagt sie und drückt meine Hand.
    »Und deine Freundin?«
    »Über sie wollen wir jetzt nicht reden«, sagt Marianne abweisend.
    »Sie ist doch auch ein Teil deines Lebens, oder?«
    »Natürlich. Iselin ist eine Liebe, und eine Liebe vergißt man nie.«

    Sie hat ihren Namen gesagt, denke ich. Iselin. Ärztin wie sie. Mit diesem Vornamen gibt es nicht viele in Norwegen. Vielleicht kann ich sie ausfindig machen.
    Aber daran denke ich nicht, als mich Marianne zum Bus begleitet, als wir zwischen den winterlichen Tannen gehen und alles still ist.
    »Sind hier überhaupt Menschen?« frage ich.
    »Überall«, lacht sie. »Und sobald du abgefahren bist, werde ich ins Schwesternzimmer gehen und mit der Nachtschwester Kaffee trinken und selbstgedrehte Zigaretten rauchen. Mach dir keine Sorgen.«
Zurück nach Oslo
    Ich sitze im Zug zurück nach Oslo. Vor den Zugfenstern eine Winternacht, das Abteil fast leer, und ich denke nach über das, was mir gesagt worden ist.
    Ob ich Marianne Skoog wirklich will ?
    Wie konnten sie nur fragen, denke

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