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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Technik, sondern mehr noch von deiner Persönlichkeit , die du jetzt, nach den Tragödien, die dich sofrüh in deinem Leben heimgesucht haben, ausstrahlst. Es klingt möglicherweise klischeehaft, es zu sagen, aber Künstler müssen eine Leidenserfahrung haben, um das Sublime vermitteln zu können. Denke an deinen berühmten Landsmann Edvard Munch. Denke an die großen Komponisten. Denke an Segovia. Ich war im Konzertsaal, als er erfuhr, daß seine Tochter umgekommen war. Er wollte gerade hinaus aufs Podium gehen, als ihm jemand aus seiner Familie weinend die schreckliche Nachricht überbrachte. Man war davon überzeugt, daß er das Konzert absagen würde. Aber weißt du, was er tat? Er sammelte sich einen Augenblick. Dann ging er hinaus aufs Podium. Und jeder, der wußte, was geschehen war, spürte, daß er nur für sie spielte, für seine geliebte Tochter. Und er spielte besser, begnadeter als jemals zuvor.«
    »Ich weiß nicht, ob ich direkt glücklich bin über die Trauer.«
    W. Gude wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. Mit seinem kahlen Schädel, seinen abstehenden Ohren und dem Professorenblick hinter den runden Brillengläsern erinnert er mich wieder einmal an einen Vogel Strauß, einen Strauß mit Brille, freundlich und mächtig.
    »Das war nicht so gemeint. Aber wir, die wir schon einige Zeit in dieser wunderbar merkwürdigen und edlen Branche tätig sind, die dank der Leuchtkraft der Musik nicht irgendeine Kommerzbranche ist, wissen, daß es um Tiefe geht. Manche Menschen haben Tiefe, andere nicht. Es ist schrecklich, zu erleben, wie viele Musiker üben und üben, ohne jemals auch nur unter die Oberfläche der Musik zu kommen. Sie verstehen es selbst nicht. Ihnen fehlt Tiefe. Dir fehlt sie nicht. Deshalb werden wir dich gezielt für das große Konzert am Mittwoch, den neunten Juni 1971 aufbauen, ein Tag, der mit Selma Lynges Geburtstag zusammenfällt, an dem indirekt gezeigt wird, daß sie fünfzig wurde, einEreignis, das sie damals nicht feierte, jetzt aber feiert. Ich bin bereits mit einigen Kollegen in Kontakt, und ich setze mich dafür ein, daß einige von Selma Lynges berühmten Freunden an dem Tag nach Oslo kommen und bis Sonntag im Land bleiben. Für sie wird ein Programm ausgearbeitet, beginnend mit deinem phänomenalen Konzert. Am selben Abend lädt Selma zu einem Festessen ins Bristol ein, im maurischen Saal, du wirst natürlich im Mittelpunkt stehen. Am folgenden Tag fahren alle mit dem Zug nach Bergen und besuchen Griegs Haus Troldhaugen und Ole Bulls Lysøen . Die Musikkonservatorien der Stadt veranstalten ein eintägiges Seminar, und du bist selbstverständlich zu allem eingeladen. Du sollst unser Verbindungsmann sein, sollst auf Griegs Flügel spielen, sollst uns bereichern mit deiner Jugend. Verstehst du?«
    »Ja«, sage ich und merke, wie die Nervosität zunimmt.
    »Aber damit du dafür bestmöglich gerüstet bist, möchte ich dich vor dem neunten Juni auf Tournee schicken. Du wirst es machen, wie es bei Theaterstücken für den Broadway üblich ist. Man spielt sie auf anderen, unbedeutenderen Bühnen, in kleineren Städten. Man testet sich selbst und das Publikum. Das ist zwingend notwendig, Aksel Vinding, damit man sich als reifen und reflektierten Künstler bezeichnen kann. Ich habe mir deshalb erlaubt, mit Musikkens Venner Kontakt aufzunehmen, diese ausgezeichnete Organisation, die du in deinem Leben noch lieben lernen wirst. Es sind alles Enthusiasten, über das ganze Land verteilte Musikliebhaber. Distriktsärzte in den abgelegendsten Orten, Zahnärzte in den langweiligsten Städten. ›Warum Venedig sehen und sterben, wenn man sich auch in Hamar zu Tode langweilen kann‹. Nein, der war dumm. Denn ich liebe Hamar. Dort befindet sich eine der professionellsten Abteilungen der Organisation. Deshalb möchte ich, daß du dort anfängst, drei Wochen vor dem Debüt, also Mittwochden 19. Mai. Ein perfektes Datum, unmittelbar bevor der Flieder blüht. Ich werde dort sein. Selma Lynge wird dort sein. Und dann wird es Schlag auf Schlag gehen, insgesamt sieben Konzerte in verschiedenen norwegischen Städten, bis wir zum D-Tag kommen, also dem Debüt-Tag, und du weißt, was es heißt, das erste Rezital deines Lebens vorzutragen. Habe ich recht? Irre ich mich?«
    Er ist davon überzeugt, daß er recht hat. Ich weiß, daß ich nicken sollte, erfüllt von tiefster Dankbarkeit. Aber es gelingt mir nicht.
    »Das würde bedeuten, daß ich fast einen Monat unterwegs bin?« sage ich.
    »Ja,

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