Der Fluß
Als bestünden keine Grenzen für das, was ich denken, träumen und hoffen kann. Keine Grenzen für die Freude. Aber auch keine Grenzen für den Schmerz.
W. Gude
1971. Ein neues Jahr. Das Jahr, in dem ich debütieren werde. Amerikanische Bomber greifen von Kambodscha aus nordvietnamesische Verteidigungsstellungen an. Sechsundsechzig Menschen werden in einem Fußballstadion in Glasgow getötet. Ich sitze in der Küche und fühle mich weit weg von den Nachrichten, weit weg von der Welt. Ich lese über den Prozeß gegen die Antibabypille Anovlar, die Schering hergestellt hat. Mir fehlt Marianne. Säße sie hier, würde sie mir erklären, was ich davon halten sollte, würde sie sagen, wie die Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten zu beurteilen sind. Sie ist meine Verbindung zur Welt, weil sie engagiert ist, weil sie meint, denkt und fühlt.
Ich schaue hinüber zum Flügel im Wohnzimmer und denkeplötzlich, daß dieses Instrument zwischen mir und der Welt steht, daß ich damit etwas Bedeutendes vermitteln soll, wenn die Botschaft der Musik bedeutend ist, daß ich ihr mit Leib und Seele verfallen bin, daß ich um das Überleben kämpfe. Ich werde wieder von einem plötzlichen Zweifel gepackt, ob meine Wahl richtig ist, ob ich tatsächlich Musiker werden will, ob ich den Menschen genausoviel geben kann wie Marianne ihren Patienten, indem sie ständig engagiert ist, eine soziale Aufgabe erfüllt, eine politische Meinung hat. Aber ich werde aus meinen Gedanken gerissen, es ist W. Gude, der anruft, der große Impresario, der so verständnisvoll war, als Rebecca auf dem Podium fiel, der uns jungen künftigen Pianisten sagte, daß wir nicht zuviel üben sollten, daß wir nicht vergessen dürften, zu lieben, Bücher zu lesen und auch Wein zu trinken. Rubinsteins Imperativ. Jetzt ruft er mich an und möchte, daß ich zu einem persönlichen Gespräch in sein Büro in der Tollbodgate komme. Wir vereinbaren den nächsten Tag. Es besteht kein Grund, zu warten.
Ich bin noch nie in seinem Büro gewesen, und als ich aus dem alterschwachen Aufzug in der dritten Etage steige, ist es, als würde ich die Musikgeschichte betreten. Signierte Fotografien an allen Wänden. Von den größten Stars. Rubinstein, Heifetz und Kempff, wie ich vermutet hatte. Ganz zu schweigen von den Frauen. Elisabeth Schwarzkopf, Maria Callas, sogar Sophia Loren hängt da, mit bestem Gruß an W. Gude, wer weiß, aus welchem Anlaß. W. Gudes schöne Frau und die ebenso schöne Tochter empfangen mich, heißen mich herzlich willkommen, ich bin jetzt sozusagen einer der ihren, gehöre zu den Weltberühmten, die an der Wand hängen.
»Recht so, daß du endlich debütierst«, sagt Frau Gude, die gewisse Ähnlichkeiten mit Selma Lynge hat. Die aufrechte Haltung. Die blitzenden Augen. Sie sagt es, als habe sietäglich mit dieser großen Neuigkeit gerechnet, ja, als sei die Firma W. Gude von meinem für dieses Jahr angekündigten Konzert gewissermaßen abhängig. Tochter Theresa, blond und anmutig wie ein Hollywoodstar, mustert mich anerkennend.
»Dein Aussehen mit in Betracht gezogen, wirst du es weit bringen«, sagt sie und kehrt die Augen gen Himmel, wobei sie ihre Mutter ansieht. Ich weiß nicht, ob sie das ernst meint oder mich zum Narren hält.
Sie machen mir einen Kaffee, dann öffnen sie die Tür zu W. Gudes Büro.
Da sitzt er hinter seinem Schreibtisch, im Anzug, mit Hemd und Krawatte. Als er mich erblickt, macht er eine weit ausholende Handbewegung.
»Aksel Vinding«, sagt er, ja ruft er beinahe begeistert. »Dieses Jahr ist dein Jahr! Und wir freuen uns, mit dir zusammenzuarbeiten, wir alle!«
Ich bedanke mich, setze mich auf den abgewetzten Lederstuhl, den er mir anbietet, kann meinen Blick nicht von all den Fotografien losreißen. Alle hat er hier in dem kleinen Oslo gehabt. Was für ein glücklicher Umstand, denke ich. Und jetzt habe ich das Glück, dank Selma Lynge seine Gunst zu besitzen, denn ich war aus keinem der Wettbewerbe als Sieger hervorgegangen. Gewonnen hat Anja. Und ich habe mich auch nicht auf andere Weise hervorgetan. Es ist, als würde W. Gude meine Gedanken lesen.
»Weißt du, was Selma Lynge über dich sagt?« sagt er. »Sie sagt, daß du das größte Talent bist, das sie jemals gehabt hat. Sie erwartet das ganz Große von dir, junger Mann. Aksel Vinding soll weltberühmt werden, nichts Geringeres. Als ich sie, etwas skeptisch geworden, frage, was denn so phantastisch sei an dir, sprach sie nicht nur über deine hervorragende
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