Der Fluß
mir diese Kraft gibt, denke ich. Ich fange an, erwachsen zu werden. Ich werde bald heiraten. Ich habe mich für etwas entschieden, ohne etwas anderes aufzugeben.
»Das ist gut«, sagt Selma Lynge zufrieden. »Das ist sehr gut. Was willst du jetzt für mich spielen?«
Ja, was will ich für sie spielen, nach Beethoven? Erwartet sie, daß ich Bach spiele, wie im Konzert?
»Hör dir das an«, sage ich in einem Anfall von Übermut.
Ich begreife nicht genau, warum ich es mache, aber ich spiele »Elven« für sie. Mein eigenes Musikstück, die Komposition, die Schubert in meinen Träumen angeregt hat, die dazu geführt hat, daß ich nach langen Übungsperioden zum blanken Notenpapier gegriffen und neue Noten, meine Noten, aufs Papier gesetzt habe.
Und während ich für Selma Lynge spiele, merke ich, wie die Ideen kommen, wie der Bösendorfer-Flügel ganz andere Obertöne hergibt als Anjas Steinway. Das ist nicht besser. Das ist nur anders. Und weil ich die Freiheit habe, selbst zu bestimmen, wie der nächste Takt klingen soll, wird das Instrument besonders wichtig. Ich kann die Musik verändern. Ich kann spontan die Stimmung wechseln. Ich kann einen Gedanken, der entsteht, verfolgen. In den vorgegebenen Noten spüre ich etwas von derselben Energie, aber ich bin in den Tönen eingesperrt. Ich weiß , was ich spielen werde. Ich kann eine Sonate von Beethoven nicht auflösen, das ist in diesem Stadium der Musikgeschichte nicht erlaubt. Ich gehöre zu einer Generation von Musikern, die sich nicht vorstellen kann, mit den klassischen Komponisten zu experimentieren. Das dürfen nur Genies wie Duke Ellington und Arne Domnérus. Dafür löse ich mich selbst auf. Für mich ist das eine wichtige Erfahrung an diesemJanuartag im Sandbunnveien, hineingetrieben zu werden in eine Improvisation über »Elven«, meiner eigenen, rasch aufs Papier geworfenen Melodie. Damit will ich Selma Lynge etwas zeigen. Aber ist sie offen dafür? Wird sie es verstehen? Sie seufzt plötzlich auf ihrem Stuhl. Verlegenheit erfaßt mich. Sie gewinnt immer wieder die psychische Oberhand. Ich lasse die Musik in einem Diminuendo ersterben, spiele mich zurück in meiner eigenen Geschichte, hin zu einer großen Unsicherheit. Schließlich sitze ich mit gebeugtem Nacken am Flügel, wie ein eingeschüchterter kleiner Junge.
»Das ist deine eigene Musik, oder?« sagt sie ruhig.
»Ja«, sage ich.
»Wirklich reizend, aber ohne Substanz. Dave Brubeck hat es besser gemacht.«
»Ich habe nicht die Absicht, mit Dave Brubeck zu konkurrieren«, sage ich.
»Nein, deine Absicht ist es, Beethoven zu spielen«, sagt sie, plötzlich wieder voller Zorn.
Und mit einem furchteinflößenden Blick erinnert sie mich an den Pakt, den wir geschlossen haben. Den Pakt, zu dem ich ja gesagt habe. Sie hat eine große Last auf meine Schultern geladen. Ihren eigenen fünfzigsten Geburtstag. Ihren pädagogischen Abschied. Es ist, als wollte sie sagen: »Es geht jetzt nicht um Marianne Skoog.«
Aber als ich die zornige Stimme höre, wie sie sich hineinsteigert und beinahe Deutsch mit mir spricht, mich beschimpft und vielleicht das Lineal holen wird, spüre ich, wie meine Kräfte schwinden, wie mich das ganze Projekt mit W. Gude, Selma Lynge, der Aula und allem Drumherum ankotzt, anekelt. Ich möchte mich nur noch auf Mariannes Couch verkriechen und »Both Sides Now« hören.
Aber es ist zu spät. Ich habe Selma Lynge etwasversprochen, so wie ich Marianne Skoog etwas versprochen habe. Ich habe keine Wahl, ich muß jetzt ihren Erwartungen genügen.
Ich sitze auf dem Klavierhocker und spüre, wie mein Kopf dichtmacht.
Marianne kommt heim
Dann ist sie wieder bei mir im Elvefaret. Dann drücke ich sie wieder an mich, sauge ihren Duft ein, während mich die Pflegerin aus der Klinik befremdet anstarrt.
»Willkommen«, sage ich und versuche, sie nicht allzu neugierig anzuschauen, obwohl mir viele Fragen auf der Zunge liegen: Wie geht es ihr? Ist sie gesund geworden?
»Danke«, sagt sie, deutlich gerührt von der Heftigkeit meiner Umarmung. Sie hält mich von sich weg, betrachtet mich auf ihre prüfende Art, will feststellen, ob ich ihr etwas vorspiele. »Was für ein schönes Gefühl, heimzukommen«, sagt sie und schleudert wie ein Schulmädchen die Winterstiefel von sich.
Sie sieht jedenfalls gut aus, denke ich. Die trockene Haut ist verschwunden. Ebenso der traurige Punkt in ihrem Blick. Sie verabschiedet sich von der Pflegerin, zeigt ein vertrautes Verhältnis zu ihr, bedankt sich
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