Der Fluß
kann ich mich auf den Abend einstimmen und auf neue Gedanken hoffen. Ich schlüpfe durch die Äste, die noch keine gelbe Herbstfärbung zeigen. Da sitze ich und denke an alles und nichts. Mein Herz hämmert wie damals, als Anja noch lebte. Ist mein Schicksal besiegelt? Habe ich etwas Endgültiges gemacht? Ist es richtig, bei Marianne Skoog einzuziehen? Instinktiv weiß ich, daß Selma Lynge nicht begeistert sein wird. Sie wohnt auf der anderen Seite des Flusses, wo das Licht ist. Sie hat sich entschlossen, auf mich zu setzen, mich zum Debüt in der Aula zu führen. Nicht jeder kann von sich sagen, Schüler der berühmten Selma Lynge aus Deutschland zu sein. Sie thront ganz oben, zusammen mit Robert Riefling. Rebecca stolperte über ihr Kleid und machte alles zunichte, und auch Anja, ihr Juwel, scheiterte. Jetzt bin ich an der Reihe. Durch die Umstände im Zusammenhang mit Anjas Tod ist es um so wichtiger, daß ich nachrücke.
Ich sitze tief im Erlengebüsch und denke diese Gedanken, schlage mich mit meinen Zweifeln herum, tröste mich aber damit, daß ich so mit dem Geld besser klarkomme. Außerdem mag ich nicht in der Stadt wohnen. Ich bin zum Spielball zwischen zwei Selbstmorden geworden. Synnestved nahm sich das Leben in der Sorgenfrigata. Bror Skoog nahm sich das Leben im Elvefaret. Ein Ort schlimmer als der andere. Aber ich fürchte mich nicht. Die Vorstellung, in Anjas Bett zu schlafen, ist gut. Mit Bach und Beethoven an der Wand.
Da höre ich Schritte. Die Sonne ist soeben hinter den Bäumen auf der anderen Seite untergegangen. Die Dämmerung erzeugt Wehmut, aber jetzt ist es unheimlich. Ich glaube, daßes mich betrifft. Und ich habe recht. Es ist Marianne Skoog, die den Weg herunterkommt, im grünen Anorak, verwaschenen Jeans und braunen, altmodischen Gummistiefeln. Auf zwanzig Meter Entfernung gleicht sie aufs Haar ihrer Tochter. Dann tritt sie gleichsam aus ihrer Jugend heraus, geht vorsichtig in meine Richtung, aber ohne mich zu sehen. Mit jedem Schritt wird sie älter, verliert aber nicht an Schönheit. Nur die Details werden deutlicher. Und ich weiß nicht, ob es das Dämmerlicht ist, das sie verzaubert, oder ob es meine Gefühle sind, die sich danach sehnen, die Lücke zu füllen. Ich verspüre einen Stich. Bald wird der Mond aufgehen. Ja, bald kommen komplizierte Nächte, denke ich. Aber ich bin innerlich voller Jubel. Weil sie nach mir sucht. Und ich fühle mich sowohl dumm wie beschämt, weil ich mich vor ihr verstecke, überzeugt, daß sie mich nicht findet, denn so ist das Erlengebüsch – für mich gemacht. Und trotzdem ein Jubel, weil sie nach mir sucht, weil sie gesehen hat, wie ich den Weg hinunterging, weil sie neugierig ist und vielleicht auch ein bißchen furchtlos. Dieser steile Weg ist nicht für jeden. Außerdem führt er nirgends hin. Wenn der Wasserstand niedrig ist, kann man den Fluß überqueren, aber das hat Marianne Skoog nicht vor an diesem Spätnachmittag. »Aksel?« ruft sie. »Bist du da?«
Ich stehe mitten im grünen Laub und antworte nicht. Da kommt mir plötzlich ein anderer Gedanke. Sie hat sich anders entschieden. Will doch nicht vermieten. Will mir das mitteilen.
»Aber du bist diesen Weg gegangen! Ich weiß, daß du hier bist.«
Stille.
Sie ist nur fünf Meter von mir entfernt. Sie ist ziemlich mutig, denke ich wieder. Hier habe ich Anja einmal den Schreck ihres Lebens eingejagt. Ich höre das Blut pochen. Es darf nicht zu laut pochen. Jetzt sehe ich sie von der Seite.Ich sehe ihr Alter. Lebenslinien in der Haut. Sie ist nicht Anja. Ich sehe, daß sie stehenbleibt, in den Taschen kramt, sich eine Zigarette rollt. Wenn ihr Mann der Taschenlampenmann ist, dann ist sie die Flußfrau, dünne Beine, Hohlkreuz und gelbe Finger. Mir wird heiß. Ich schäme mich, in dieser für uns beide von Trauer erfüllten Zeit, daß ich daran denke, was jetzt mit uns geschehen könnte, plötzlich und befreiend, daß ich sie rufen und sie zu mir kommen könnte, daß wir gemeinsam die Trauer vertreiben könnten.
Sie steht da und blickt hinunter zum Fluß. Macht einen tiefen Zug an dem gerollten Glimmstengel. Mir gefällt die Art, wie sie raucht. Als könnte der Rauch nicht tief genug in sie eindringen. Dann dreht sie sich um und geht wieder nach oben, zögert, hebt ein bereits verwelktes Laubblatt am Weg auf, zerknüllt es in der Hand. Als würde sie die Liebe zerknüllen, in der sie so tief gesunken ist. Oder zerknüllt sie den Gedanken, den sie vielleicht eben dachte? Ich blicke ihr
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