Der Fluß
nach. In allem, was ich denke, ist so viel Anja. Ich murmle vor mich hin: »Anja, geliebte Anja. Möchtest du, daß ich an deiner Stelle bei deiner Mutter wohne? Möchtest du das wirklich?«
Aber ebenso, wie Marianne Skoog keine Antwort bekam, höre auch ich niemanden, der sich aus dem Totenreich oder der Dämmerung meldet.
Eine halbe Stunde später husche ich wieder hinauf zur Straße und nehme die Straßenbahn in die Stadt.
Ich muß schnell handeln, denke ich. Muß meine Wohnung im »Aftenposten« annoncieren. Damit sie sich nicht anders entscheiden kann.
Aber im Innersten weiß ich, daß sie das nicht tun wird. Sie hat mir Anjas Zimmer gezeigt.
Jetzt ist es zu spät.
Schubert
In der Nacht träume ich von Schubert. Spiele Schubert-Sonaten. Schubert hatte Freunde. Was mich angeht, herrscht überall Chaos. Aber ich habe einen Flügel. Ich sitze und übe. Spiele nur Schubert, und er sitzt direkt neben mir, wie Selma Lynge es manchmal tut. Die langen Passagen. Die sachten zweiten Sätze. Die Nebenmotive gestalten den eigentlichen Inhalt. Dort sind die Gefühle, ist die Wahrheit. Schubert spielen heißt wissen, was man lieben soll. Aber diese Noten verschwimmen, werden unleserlich. Die ersten Notenblätter verstand ich. Dann weiß ich plötzlich nicht mehr, in welcher Tonart ich bin. Aber Schubert sitzt neben mir und hört zu. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Er und ich haben vieles gemeinsam. Er verlor auch als Jugendlicher seine Mutter. Er verlor seine Geliebte. Die junge, pockennarbige Therese Grob durfte er nicht heiraten. Kleinliche Gesetze standen zwischen ihnen. Trotzdem liebte er sie. Es gab in Schuberts Leben keine anderen Frauen. Die beiden waren füreinander geschaffen. Sind es etwa die Gefühle für Therese Grob, die ich jetzt gestalten soll? Und wenn ja: Warum sehe ich keine Noten mehr? Sie zerlaufen vor meinen Augen, tropfen auf die schwarzen Tasten und verschwinden zwischen den Ritzen.
Aber ich spiele weiter! Muß es tun, solange Schubert neben mir sitzt. Kann ihn nicht enttäuschen. Schubert neben sich, das ist nicht jedem vergönnt. Diesen dicken, kleinen Mann. Wer hätte gedacht, daß er ein begabter Komponist ist. Ich muß seinen Erwartungen gerecht werden. Ich spiele, obwohl das Notenblatt weiß ist. Sind wir jetzt in C-Dur? Oder in b-Moll? A-Dur vielleicht? Das ist am sichersten. Viel A-Dur bei Schubert. Ich schwitze, kann nur raten, was musikalisch abläuft, während die Finger über die Tasten laufen. Ich spüre, daß das, was ich wiedergebe, genial ist, daß ein Meister seine Verzweiflung spielend zum Ausdruck bringt. Ich bin das Werkzeug, bin das Instrument. Ich kannihn nicht enttäuschen. Und Therese Grob auch nicht. Schubert beugt sich über mich, horcht, ist völlig konzentriert. Verzweifelt versuche ich, Noten zu erkennen. Nichts. Nur das weiße, leere Blatt! Eine Kälte steigt auf. Eine Angst. Hier versage ich. Hier wähle ich c-Moll. Aber das ist falsch. Ich schlage einen Akkord an, wieder und wieder. Er ist falsch, falsch, falsch. Ich schäme mich. Ich fange an zu heulen. Ein fürchterliches Versagen.
Schubert klopft mir auf die Schultern, versucht mich zu trösten. »Na, na. Was du gerade spielen willst, habe ich noch gar nicht geschrieben.«
Ich nehme die Hände von den Tasten, schaue ihn erschrocken an.
Schubert lacht vielsagend.
»Spiel weiter. Dann wirst du sehen, was geschieht.«
Die Tasten verschwinden. Ich spiele und spiele. Es kommt kein Laut. Schubert fängt zu lachen an. Er lacht und lacht. Das dumme Lachen hallt im Kopf wider. Ich erröte und merke, daß ich wach bin. Der helle Morgen in der Sorgenfrigata scheint durch die Fenster.
Konfrontationen bei Tageslicht
Dann ist Selma Lynges Tag, und ich seufze wie ein alter Mann, bin gar nicht mehr zuversichtlich. Ja, wieder Selma Lynge, die Urmutter. Nach einem langen Sommer. Da muß ich anständig aussehen. Da muß ich mich rasieren. Da muß ich beweisen, daß ich geübt habe in den Sommerferien, muß mir ihre Ansichten über Liebe, Schönheit und Freundschaft anhören. Da muß ich zeigen, wie recht sie hat, auf mich zu setzen. Da muß ich Tee trinken. Da muß ich die Straßenbahn bis hinaus nach Lijordet nehmen. Und vielleicht muß ich sagen: »Es reicht jetzt. Zuviel hat sich ereignet. Vielleicht sollten wir ab jetzt getrennte Wege gehen.«
Aber bin ich dazu stark genug? Da stehe ich an diesem Septembernachmittag des Jahres 1970 vor dem großen, düsteren Haus im Sandbunnveien und spüre, wie mich der Mut verläßt.
Weitere Kostenlose Bücher