Der Fluß
Hinter diesen Wänden wohnen zwei weltberühmte Menschen mit großem Ansehen.
Torfinn steht bereit. Der begnadete Philosoph. Ich hatte ihn fast vergessen, trotz all der Artikel in den Zeitungen. Keine Woche vergeht ohne einen Artikel von Torfinn Lynge. Sein Meisterwerk »Über das Lächerliche« ist ein unerschöpflicher Brunnen. Die Journalisten stehen Schlange: Was meint er eigentlich? Warum grinst er immer, wenn er von sich spricht? Welche internationalen Preise hat er in letzter Zeit bekommen?
Mir gegenüber wirkt Torfinn Lynge liebenswürdig und sanft, wie er an der Tür steht und mich ins Wohnzimmer bittet.
»Willkommen, willkommen! Das junge Genie hatte einen angenehmen Sommer?«
»Ja, vielen Dank«, sage ich und schaue in das verwirrte Professorengesicht. Etwas an seinem Blick gefällt mir. Ist es wirklich wahr, daß ihn Selma Lynge mit einem Jüngeren betrügt? Eine Bestätigung fand ich nie. Keiner der beiden sieht so aus, als könne er ein solches Doppelleben führen. Jetzt sehe ich, daß er mich wiedererkennt, mich einordnet als Anjas Freund. Er wird sofort ernst, nimmt noch mal meine Hand.
»Wirklich schlimm, was mit deiner Liebsten geschehen ist.«
Ich mag es, daß er Anja als meine Liebste bezeichnet. Ich würde das Wort nie benutzen. Es klingt etwas altmodisch. Er kann es benutzen. Lange sah es so aus, als sei er ein Dummkopf, nett und fügsam, der sich abgefunden hat mit den unsinnigen, gemeinen Einfällen seiner Frau, wenn sie ihn mit der Straßenbahn hinein nach Oslo schickt, um ein spezielles deutsches Schwarzbrot zu besorgen. In der Aulahat sie ihn wie ein Maskottchen benutzt, einen Schmuckgegenstand, obwohl man Torfinn Lynge alles andere als eine Schönheit nennen kann. Sein Name ist es, mit dem sie sich schmückt. Der weltberühmte Name. Für mich ist er bisher auch nur diese Weltberühmtheit gewesen. Aber jetzt blicke ich plötzlich in das alternde Gesicht eines Mannes, der versucht, aufrichtig mit mir zu reden, ein Ereignis zu beklagen, meine Ohnmacht zu respektieren. Er nimmt meine Hand zwischen seine beiden Hände, als sei er ein naher Freund in der Trauer, und das rührt mich tiefer, als ich gedacht hätte. Ich fange an zu weinen. Ein schlechtes Zeichen, fährt es mir durch den Kopf. So wollte ich eigentlich nicht erscheinen. Derart weich und sentimental. Ich wirke jetzt lächerlich. Ich schäme mich. Aber der Blick des Professors ist voller Verständnis, eine Aufmerksamkeit, die mir Rebecca nie gezeigt hatte, weil ihre Lebenseinstellung hell und freundlich ist. In ihr findet sich fast nichts Dunkles. Und jetzt verstehe ich auf einmal, wie schwarz es die ganze Zeit in mir gewesen ist. Ich spüre eine Erschöpfung, die mir angst macht. Torfinn Lynge sieht es, klopft mir auf die Schulter, läßt mich ausweinen.
»Selma kann dir helfen. Selma ist klug.«
Ich nicke dankbar. Sie sitzt da drinnen im Wohnzimmer, wie eine Königin, intensiv duftend, sorgfältig gekleidet, sogar die Haare in Form – und ich habe das Gefühl, das, woher ich komme, bietet nicht genug, um darüber zu reden, entspricht nicht ihren Erwartungen. Auch kann ich nicht aussprechen, was ich noch vor wenigen Minuten dachte: »Selbständigkeit für meinen kleinen Freistaat!«
»Kümmere dich um diesen jungen Mann«, sagt Torfinn Lynge und schiebt mich hinein zu ihr, als verstünde er intuitiv meine Situation. Dann schließt er die Tür hinter mir und läßt uns allein. Und kaum sehe ich sie wieder, diese schöne, große und schlanke Frau zwischen den schweren,deutschen Möbeln vor dem Bösendorfer Flügel, die schlafende Katze in der Ecke, spüre ich die Nervosität kommen, erkenne meine Minderwertigkeit. Obwohl ich größer bin als sie, werde ich ihr nie das Wasser reichen können. Sie besitzt einen Standard, hätte Anja gesagt, einen Standard des Lebens, den sie nicht nur in allem, was sie sagt, offenbart, sondern auch in ihrer Professionalität. Augenblicke, in denen sie mir vorgespielt hat, um mir zu demonstrieren, was ich noch viel besser machen könnte. Kurze Passagen in Scherzi von Chopin oder Fugen von Bach. Da spielt sie mit der Autorität des Genies. Da beuge ich mich vor ihr in den Staub. Da verehre und bete ich sie an wie ein gehorsamer Schüler.
Sie genießt es.
Wir trinken Tee. Selma Lynges Tee. Kein Tee schmeckt wie Selma Lynges Darjeeling. Sie wirkt angespannt. Will mir offenbar etwas mitteilen. Etwas Wichtiges. Vielleicht mustert sie mich deshalb so forschend, fast ein bißchen mißbilligend. Ich
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