Der Fluß
weiß, es hat ihr nicht gepaßt, daß ich eben weinte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, unsere erste Begegnung im neuen Semester. Sie zählt sich zu den abgefallenen Habsburgern, halb spanisch, spricht nie über das Jüdische. Sie will mich stark haben und voller Unternehmungsgeist für die gewaltige Aufgabe, die sie für mich in diesem vielleicht entscheidenden Herbst vorgesehen hat. Sie akzeptiert keine Schwäche, keine Schwäche des Geistes. In Selma Lynges Welt sind wir alle Einzelindividuen mit einem freien Willen. Sie nimmt die Anforderungen des Lebens an, ein Leben, das keine Sonntagsschule ist, denn in ihren Augen sind wir dazu verpflichtet, uns zu veredeln. Deshalb weint man auch nicht zur Unzeit, wie ich es gerade getan habe.
Sie sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen da, trägt die türkise Bluse mit den zwei offenen Knöpfen am Hals. Ohnedaß wir darüber gesprochen hätten, weiß sie, daß ich die Bluse besonders gerne mag. Sie zieht diese Bluse häufig an, so als sei sie Teil des ungeschriebenen Pakts zwischen uns. Vom ersten Moment an war mir klar gewesen, daß sie um ihr Genie, ihre Stärke und ihre Anziehungskraft weiß. Der Sommer hat ihr gutgetan. Ihre Haut ist gebräunt, sie wirkt ausgeruht und tatkräftig. Ihr schönes, schwarzes Haar hat ein paar graue Strähnen bekommen. Das steht ihr. Sie ist Mutter von drei Kindern. Aber über die Kinder redet sie nie. Sie versteckt die Mutterrolle hinter einer beinahe kindischen Putzsucht. Ich weiß, daß sie sich vor jeder Klavierstunde extra herrichtet. Tut sie das etwa für mich? Es ist erstaunlich, wieviel Zeit sie für ihr Aussehen verwendet, für Schmuck, Ohrringe, Kleider, dazu ein sorgfältiges Makeup mit verjüngenden Cremes, obwohl sie auf innere Werte setzt und die äußere Staffage verachtet. Was denkt sie wohl, überlege ich, wenn sie da vielleicht Stunden vor dem Spiegel verbringt und sich schön macht? Auf den alten Künstlerfotos, die im Flur hängen, sieht sie aus wie ein feuriger und dunkelhaariger Hollywood-Star der fünfziger Jahre. Wie Gina Lollobrigida oder Sophia Loren. Und mit den Rehaugen von Audrey Hepburn.
»Zeige nur deine Trauer«, sagt sie sanft. »Die Trauer gehört zum Leben. Ich weiß, es ist hart. Anja war einzigartig. Aber in der Trauer kannst du Klarheit finden. Ich bin überzeugt, daß du das getan hast. Die Trauer erzeugt Askese und Willenskraft. Ich weiß, daß du hart an dir gearbeitet hast. Ich sehe dir das an. Wie war dein Sommer? Nein, laß mal. Spiele zuerst, reden können wir hinterher.«
Septembernachmittag im Sandbunnveien. Die Sonne ist hinter den hohen Fichten im Westen verschwunden. Der Herbsthimmel zeigt sich mit einem tieferen, flammenderen Rot als in den Sommernächten. In dem großenWohnzimmer herrscht Dämmerlicht. Die Katze ist erwacht, betrachtet mich mit skeptischem Blick, bis sie mich wiedererkennt. Ich spüre einen Hauch von Unheil. Jetzt wird es offenbar, was der Sommer mit mir gemacht hat. Ich gehe hinüber zu dem schwarzen Flügel und setze mich. Übelkeit steigt in mir hoch. Ein Flügel versteht keinen Spaß. Die Größe des Instruments, Farbe und Gewicht machen ihn zu einem Monster in der Musik, das nur von der Kirchenorgel übertroffen wird. Ein Flügel weckt Feierlichkeit und Ernst. Ein Flügel weckt Gedanken an den Tod. Meine Finger sind klamm. Mein schlimmster Alptraum erfaßt mich, die Vorstellung, in der vollbesetzten Aula zu sitzen und etwas spielen zu müssen, von dem ich weiß , das kann ich nicht, das habe ich nie geübt. Trotzdem sitze ich auf dem Podium und tue so, als ob. Was hat mich hierhergebracht? Aber das ist kein Traum. Das ist mein wirkliches Leben im wachen Zustand. Ich komme unvorbereitet zu Selma Lynge. In einigen Sekunden wird sie erkennen, daß ich unseren gemeinsamen Pakt gebrochen habe, daß ich ihr Vertrauen mißbraucht habe. Bald wird sie die Patzer hören, die Unsicherheit, die fehlende Kraft des Ausdrucks, alles sichere Zeichen, daß man zuwenig geübt hat. Ich weiß nicht, ob es schon einmal ein Student gewagt hat, unvorbereitet zu Selma Lynge zu kommen. Mit mir muß etwas nicht in Ordnung sein, daß ich jetzt an ihrem Bösendorfer sitze und etwas Halbherziges abliefere, das weder ihrer noch meiner würdig ist. Sie ist auf dem obersten, internationalen Niveau. Sie ist mit Pierre Boulez befreundet, hat mit Ferenc Friscay gespielt und kritisiert ganz selbstsicher Glenn Gould. Ich habe diese Situation verdrängt, habe den ganzen Sommer mit dem
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