Der Fluß
Gedanken geliebäugelt, bei ihr aufzuhören, damit mein Leben leichter und gefahrloser würde ohne sie. Denn Selma Lynge ist gefährlich. Hat mich Rebecca zu faulen Tagen und einem Luxusleben an der Südküste verführt? Haben mich ihre Worte mehrbeeinflußt, als ich glaubte? Die wohlmeinenden Ratschläge, das Glück zu suchen und zu leben, bevor es zu spät ist. Und ich bin nicht glücklich. Ich bin nervös und ängstlich. Ich bin gefühlsmäßig aus dem Gleichgewicht, bin freischwebend. Warum geht man zu Selma Lynge? Man geht dorthin, um korrigiert zu werden, um etwas Neues zu lernen, um der Beste zu werden. Sie ist der Meister. Ich bin ihr auserwählter Schüler. Zwischen uns besteht vom ersten Augenblick an ein besonderes Verhältnis. Warum sitze ich hier im Sandbunnveien und spiele Musik, die ich nicht kann? Ich habe Rubinsteins Ausspruch wörtlich genommen: »Es gibt Bücher, die ich lesen muß, Frauen, die ich kennen muß, Bilder, die ich sehen muß, Wein, den man trinken sollte« – das sagte er. Deshalb übe er nur drei Stunden jeden Tag, sagte er. Eine gefährliche Lebensweisheit für einen jungen Studenten, der noch nicht debütiert hat. Ja, diesen Sommer habe ich an Mädchen gedacht, an Wein und Gesang, und ich bin nicht einmal glücklich gewesen. Ich habe zu wenig geübt. Ich habe das Wichtigste vergessen: daß ich mich noch nicht auf dem Niveau befinde, auf dem man weniger üben darf. Wenn man Rubinstein oder Kempff heißt, kann man sich erlauben, nur drei Stunden täglich zu üben. Da hat man sein ganzes Leben damit verbracht, sich eine Technik und Erfahrung anzueignen. Ich heiße Aksel Vinding. Ich bin einer der einfachen Burschen von Røa. In der letzten Stunde, bevor wir uns für den Sommer trennten, hat mir Selma Lynge eingebleut, daß ich jetzt, in dieser Phase meines Lebens, das Technische ernst nehmen müsse. Das sagte sie auch bei unserem ersten Treffen. Wie hatte ich das vergessen können? Das ganze Spektrum der Chopin-Etüden. Die teuflische D-Dur-Etüde mit None-Intervallen aus op. 10. Die fürchterliche gis-Moll-Etüde mit den Terzen aus op. 25. Sie hatte mir Henles Ausgabe im Urtext zum Geschenk gemacht. Das war nicht nur ein Geschenk, das war ein Befehl. Den Restmeines Lebens, sagte sie, solle ich keinen Tag ohne diese Etüden verbringen. Die haarsträubende h-Moll-Etüde mit den Oktaven, die berühmte a-Moll-Etüde aus dem ersten Band, auf die sie mich speziell hinwies, weil sie wußte, daß der vierte Finger der rechten Hand mein Schwachpunkt ist. Ich hätte ihren Ratschlägen folgen sollen, aber Anja war gestorben. Die Trauer war zu groß. Der Trotz nach diesem erneuten Verlust. Das sollte ich Selma Lynge erzählen, jetzt sofort! Ich sollte mich ganz klein machen, berichten, wie mein Sommer verlief. Statt dessen begebe ich mich freiwillig in meinen schlimmsten Alptraum, setze mich an den Bösendorfer und tue so, als könnte ich etwas, was ich nicht kann. Vielleicht hat sie es gemerkt, in der letzten Stunde vor den Sommerferien, daß sich in mir etwas veränderte, daß sie mich nicht mehr in der Hand hatte, daß Anjas Tod ein so erschütterndes Ereignis war, daß ich mich aus Selma Lynges Magnetfeld entfernen könnte. Vielleicht hatten sowohl Selma Lynge wie auch ich zu hohe Erwartungen an unseren stillschweigenden Pakt, an unsere gemeinsamen Möglichkeiten. Eine Skepsis war in mir gewachsen und ist geblieben, denn das Schicksal wollte, daß ich den Sommer mit Rebecca Frost, die abgesprungen war, verbrachte. Aus Selma Lynges Perspektive war Rebecca Frost die schlechteste Gesellschaft, die ich mir aussuchen konnte.
Sie will, daß ich die Etüden spiele. Die Etüden des genialen Chopin, der um die Schwächen der menschlichen Hand wußte, der vierundzwanzig Lösungen für die Probleme des Pianisten fand. Vierundzwanzig Wege, technische Mängel zu entlarven. Vierundzwanzig Geschenke für den, der sie mochte. Meisterte man diese vierundzwanzig höllischen Stücke, stand einem die gesamte Musikliteratur offen. Das war Selma Lynges Standpunkt. Dann ist man gerüstet für die ganz großen Aufgaben: Brahms B-Dur-Konzert,Rachmaninows Nr. 2 und 3, Ravels »Gaspard de la Nuit», Bachs Gesammelte Klavierwerke, Busonis überdimensionierte Transkriptionen, Skrjabins Dekadenz, Beethovens »Hammerklavier«. Ganz zu schweigen von Chopins eigenen Werken, die haarsträubenden Sonaten, Scherzi, die Fantasie in f-Moll.
Ich beginne mit der ersten Etüde, der Nonen-Etüde in C-Dur. Das geht gut, denn ich
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