Der Fluß
Überschwang gespielt werden. Da würde sie lächerlich wirken. Es handelt sich um eine Musik, von einem Menschen geschrieben, der auf etwas zurückblickt. Er sehnt sich nicht nach etwas, das werden soll, sondern trauert über etwas, das gewesen ist, das bereits vorüber ist, und so gesehen, versteht mich Selma Lynge vielleicht besser, als ich mich selbst verstehe. Die schrecklichen Ereignisse des Frühsommers und das, was auf dem Meer vor Rebeccas Ferienhaus passierte, haben mich verändert. Vielleicht besteht gerade eine Verbindung zwischen den übertrieben unbekümmerten Klängen zu Beginn von Beethovens op. 110 und meinen Erinnerungen an Anja. Beethoven geht bis an die Grenzen seiner Persönlichkeit. Dasselbe machte Anja, während ich an der Auslinie stand, mich von ihr in der Konkurrenz besiegen ließ, in meinem Leben den Anschluß verlor, ständig dazu verführt, mich in Trauer oder hoffnungsloser Sehnsucht zu verlieren. In Beethovens Welt ist es ein einundfünfzig Jahre alter, tauber Mann, der das Leben preist, der die Musik preist, und das in der vielleicht unbewußten Gewißheit tut, daß ihm nur noch eine bescheidene Zahl von Jahren bleibt, um zu komponieren, weil in sechs Jahren der Tod wartet. Er war damals schon dreizehn Jahre taub. Er hatte sich das Leben nehmen wollen. Er hatte nie eine glückliche Beziehung mit einer Frau gehabt. Er sollte nie heiraten. Ach, wie traurig sind sie alle, diese Komponistenschicksale, diese vertanen Leben, geopfert auf dem anspruchsvollen Altar der Musik. Und als er diese Sonate schrieb, wählte er die schwierigeund selten benutzte Tonart As-Dur, für die Chopin und Schubert eine Vorliebe hatten. Jedesmal, wenn ich As-Dur spiele, denke ich an Glas. Aber Beethoven wählte diese Tonart, um Innigkeit und Schönheit auszudrücken. In diesen drei letzten Sonaten gab er sich trotz allem dem Leben hin. Ja, denke ich ehrfürchtig, wie ich da an Anjas Flügel sitze und zu den Tannen hinausschaue, es ist dieses »trotz allem«, das die Dimension im Kunstwerk schafft. Eine Gewißheit. Eine Trauer.
Dann hat Selma Lynge vielleicht doch die richtige Wahl für mich getroffen.
Mein Rücken schmerzt, und als ich auf die Uhr schaue, ist es bereits drei Uhr nachmittags. Nun gut, denke ich. Fünf Stunden Üben muß für den ersten Tag genügen. Für die Finger ist es auch besser, aufzuhören, geschädigt von den Linealschlägen Selma Lynges. Ich sehne mich nach etwas, das mich erlösen kann von den tristen Gedanken, die ich die ganze Zeit während des Übens hatte. Die Gedanken an vertane Leben in der Vergangenheit und in der Gegenwart. In diesem Haus hat man das Gefühl, als sei es nur ein kurzer Weg bis zum Tod.
Mahlers dritte Sinfonie
Als ich mich endlich von den Klaviertasten losreiße, gehe ich zur Plattensammlung und stelle zu meiner Freude fest, daß alle »Music Minus One«-Platten noch da sind. Das bedeutet, ich kann Mozart, Beethoven und Brahms mit vollem Orchester spielen. Der Klavierpart fehlt. Und damit der Pianist den Takt halten kann, tickt während der Klaviersoli ein Metronom. Bei den großen begleitenden Solo-Partien ist es am einfachsten und erfüllendsten. Da bekommt man wirklich das Gefühl, mit einem großen Orchester zu spielen. Aber ich habe jetztkeine Lust mehr zu spielen, weil ich kein Klavierkonzert richtig in mir habe, nicht einmal Mozarts c-Moll-Konzert, das ich bereits seit zwei Jahren übe. Statt dessen finde ich Bernsteins Einspielung von Mahlers dritter Sinfonie. Das ist es, denke ich, wie ich da mitten im Wohnzimmer stehe mit dem Panoramafenster, das zum Tal hin zeigt und zum Fluß. Hohe, ernste Tannen, wie in einem Krematorium. Mutter, Bror Skoog und Anja, alle wurden sie verbrannt. Kein wurmzerfressener Finger ist übrig. Ich weiß nicht, ob die Vorstellung, daß sie Asche sind, besser ist als die Vorstellung, sie würden in der Erde liegen und verfaulen. Aber diese Aussicht, die Bror Skoog einmal für sein Haus gewählt hat, paßt mir gerade jetzt gut. Ich lege die Platte auf den Garrard-Plattenspieler und setze mich in einen der zwei Barcelona-Stühle. Ich merke, daß ich ein schlechtes Gewissen, habe, weil ich mir mitten am Tag diesen Luxus gönne, tröste mich aber damit, daß meine Finger heute kein weiteres Üben aushalten.
Mahlers dritte Sinfonie. Zu den Quellen gehen und sein Selbst überschreiten. Die Nachmittagssonne scheint auf das große Fenster. Die Tannen glänzen sonnengrün. Die Musik bewegt sich in Wellen. In dieser Sinfonie hebt sich
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