Der Fluß
ständig der Horizont. Ich kann mir keine genauere Beschreibung der Kontraste des Lebens vorstellen, jedenfalls nicht in diesem Stadium meines Lebens. Aber es ist noch möglich, an das Leben zu glauben, denke ich, sein Selbst zu formen, weiterzugehen trotz all des Schmerzlichen, das geschehen ist. Bror Skoogs McIntosh-Verstärker und die zwei AR-Lautsprecher erzeugen mit dem Plattenspieler und dem Tonabnehmer eine Illusion, die mit der Wirklichkeit konkurriert. Die New Yorker Philharmoniker sitzen hier, direkt vor mir, und spielen. Bernstein dirigiert in Marianne Skoogs Wohnzimmer. Die Bläser bauen vertikale Säulen in all das Horizontale, glänzende Lichtblicke inmitten deruntergründigen Trauer, der Erfahrung, des gelebten Lebens, der teuer erkauften Erfahrungen, die Mahler zu Mahler machten. Und als die Freude, der Ernst, die Versöhnung am Ende des letzten Satzes an ihren höchsten Punkt gelangt sind, sitze ich plötzlich in Tränen aufgelöst da, verzweifelt über alles, was ich verlor, voller Angst vor dem, was mich erwartet. Und in diesem deprimierten Zustand findet mich Marianne Skoog, läuft ins Wohnzimmer, wo ich sitze, beugt sich zu mir, drückt mich an sich, läßt mir gerade genug Luft in ihrer Halsgrube, der weichen Halsgrube von Anjas Mutter.
»Verzeih«, schluchze ich. »Versteh das nicht falsch. Es geht gut. Ich bin so froh, hier zu sein.«
»Mein Junge«, sagt sie still und streichelt mir immer wieder über den Kopf, und wir hören beide Mahler. »Ich wußte nicht, daß du sie so sehr geliebt hast.«
Zweite Nacht im Elvefaret An diesem Abend trinken wir keinen Wein zusammen. Gleich, nachdem ich mich wieder gefangen habe und sie sicher sein kann, daß alles in Ordnung ist, gehe ich in die Küche, schmiere mir ein paar Brote und ziehe mich auf mein Zimmer zurück, damit sie das Gefühl bekommt, daß ich in der Lage bin, unsere Absprache einzuhalten. Jetzt bin ich der Untermieter Aksel Vinding. Ich habe begonnen, mich in große Romane zu stürzen, wie Cathrine es gemacht hat, als sie zwölf war. Am laufenden Band lese ich »Die Brüder Karamasow«, »Schuld und Sühne«, »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina«. Jetzt gerade ist es »Der Idiot«. Die Russen leiden und lieben. Mich fesselt die Intensität, der Lebensernst. Ich liege auf Anjas Bett und verschlinge jedes Wort, denke, daß sie jung sind, diese Menschen mit den tiefen Gedanken. Ich bin selbst jung, aber ich fühle mich nicht tief, nicht klug, nicht selbständig. Ich genoß es, mit dem Mund in MarianneSkoogs Halsgrube gewesen zu sein. Sie erregt mich mit ihrer Anwesenheit, mit allem, was sie tut. Es erregt mich, daß sie siebzehn Jahre älter ist als ich. Es erregt mich, daß wir die Trauer gemeinsam haben. Ich merke, daß ich an sie denke, während ich auf dem Bett liege und lese. Was tut sie jetzt gerade? Es ist so still da unten. Liest sie Zeitung? Wird sie bald Joni Mitchell auflegen? Ja, wahrhaftig. Da kommen die Lieder erneut. Ich erkenne die Einzelheiten, den reinen Ausdruck. Mir gefällt es, daß Marianne Skoog laut aufdreht. Es stört meine Gedanken. Ich will zur Zeit immer gestört werden, abgelenkt werden.
Aber als sie fertig ist mit »Ladies of the Canyon», wird es wieder still. Ganz still. Erst nach einer Stunde, kurz vor Mitternacht, kommt sie die Treppen herauf. Braucht sie so wenig Schlaf? Sie geht nicht in ihr Zimmer, nicht ins Bad. Sie geht ins Gästezimmer, das verbotene Zimmer. Ich höre, daß sie telefoniert. Mit leiser Stimme, die durch die Wand kaum hörbar ist. Mit wem redet sie so spät? Hat sie einen Geliebten? Ich will nicht, daß sie einen Geliebten hat.
Ich liege wach und lausche. Sie spricht lange und monoton, als würde sie sich anvertrauen. Wem vertraut sie sich an? Das könnte natürlich eine Freundin sein. Ja, ich hoffe, es ist die Freundin, mit der sie im Vorjahr in Woodstock war.
Dann muß ich aufs Klo und pinkeln. Draußen auf dem Gang ist es leichter, sie zu hören, aber ich bleibe nicht stehen, um zu lauschen. Ich gehe ins Bad und pinkle, und danach gehe ich wieder hinaus auf den Gang.
Und da steht sie.
Sie hat sich ein Nachthemd angezogen. Es ist kurz und weiß, und sie ist barfuß. Das Haar ist offen, so wie Anja es hatte, als sie vor Publikum spielte. In diesem Halbdunkel ist sie beinahe überirdisch schön.
»Habe ich dich wach gehalten?« sagt sie.
»Nein«, sage ich.
Sie kommt zu mir, streicht mir über den Arm, lächelt vorsichtig.
»Ich werde nicht mehr telefonieren. Geh jetzt
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