Der Fluß
wach hält. Ich erzähle ihr, daß ich jeden Tag sechs bis sieben Stunden übe und daß ich, wenn ich mit dem täglichen Pflichtprogramm fertig bin, die großen Konzerte mit »Music Minus One« spiele. Das akzeptiert sie.
Dann ist sie an der Reihe. Sie erzählt mir, daß sie und Christian die Wohnung in der Sorgenfrigata lieben, daß sie das Gespenst von Synnestvedt mit Seufzen und Stöhnen zum Fenster hinausgejagt haben, daß es ungewohnt und erregend ist, mitten in der Stadt mit jemandem Liebe zu machen, mit Menschen an allen Ecken. Diese Erfahrung hat sie weder in der elterlichen Villa auf Bygdøy gemacht noch im Ferienhaus an der Südküste. Ich werde eifersüchtig, wennsie das so offen erzählt, und sie merkt es und ist befriedigt. Sie hat mehr von der Hippie-Zeit gelernt als ich. »Du besitzt ein Stückchen von mir, das Christian nie bekommt«, tröstet sie mich. »Hättest du dich damals nicht in Anja verliebt, wäre aus uns etwas geworden. Ist dir das klar? Ich hatte mich für dich entschieden, auch wenn du mit Margrethe Irene rumgemacht hast. Du warst mein Held, mein Idol. Niemand kann mich so erregen wie du, weißt du das? Aber an dem Tag, an dem ich meinte, ich würde es schaffen, dich in mich verliebt zu machen, tauchte Anja auf, und ich hatte keine Chance. Da blieb mir nur eines, ich mußte mich nach einem anderen umschauen. Dieses Leben vergeht zu schnell, Aksel. Davon bin ich überzeugt. Und ich bin nicht dafür geschaffen, mich Jahr für Jahr mit aussichtslosen Liebesprojekten herumzuschlagen. Christian hat seine Qualitäten. Deshalb muß ich jetzt gehen.«
Sie legt mir die Arme um den Hals, sieht mir mit ihrem blauen, intensiven Blick tief in die Augen. Dann küßt sie mich rasch auf den Mund.
»Wir könnten es wieder tun«, murmle ich.
»Nein«, sagt sie mit einem strengen Finger auf meinen Lippen. »Ich will ein ehrliches Leben führen. Ich will meinem Verlobten treu sein.«
»Und wenn ich um dich werben würde?« sage ich plötzlich mit klopfendem Herzen. »Wenn ich sagen würde, daß du die einzige bist, die ich haben möchte?«
Sie bohrt einen spitzen Nagel in meinen Nacken.
»Damit spaßt man nicht, Aksel. Das ist zu ernst für mich. Außerdem ist es zu spät.«
Danach sitze ich wieder am Flügel, nicht in der Verfassung, zu üben. Die Erinnerung an die letzte Nacht im Ferienhaus der Frosts an der Südküste überwältigt mich. Und zusammen mit den Erinnerungen kommen die Erinnerungen anall die anderen Tage zusammen mit Rebecca. Es war gut, mit ihr zusammenzusein. Ich empfand eine Art Ruhe, fast Glück. Habe ich sie übersehen? Habe ich sie immer übersehen? Begriff ich nie, was sie mir sagen wollte über die Wahl des richtigen Lebens?
Es wird bereits dunkel. Die Tage werden kürzer und kürzer. Ich sehne mich nach Rebecca, freue mich aber, nicht mehr allein zu sein.
Bald kommt Marianne Skoog von ihrer Arbeit nach Hause.
An diesem Abend bleiben wir sitzen und plaudern. An diesem Abend will keiner von uns allein sein. An diesem Abend wollen wir beide Wein trinken. Rebecca hat mich entflammt. Ich sehe, daß sie sich ähnlich fühlt. Sie hat mich eingeladen, mit ihr zu essen, eine einfache Spaghettimahlzeit. Sie ist keine Meisterköchin. Aber das macht nichts. Ich mag es, mit ihr zu plaudern. Sie fragt nach meinem Tag, wie es gewesen ist. Ich erzähle ihr, daß Rebecca hier war. »Ich mag Rebecca«, sagt sie. »Du solltest mit ihr zusammensein.«
»Das sagt sie auch. Aber es ist zu spät.«
»Nichts ist zu spät, solange du lebst«, sagt sie.
»Aber sie ist verlobt. Eine Millionärstochter aus Bygdøy. In solchen Kreisen trennt man sich nicht. Das kann für die Familie peinlich sein.«
»Ach was«, sagt Marianne Skoog mit einem Lächeln.
»Mir geht es ausgezeichnet hier«, sage ich.
Wir sitzen jeder in seinem Le-Corbusier-Zweisitzer, aber nahe genug, um uns mit ausgestreckten Händen rasch berühren zu können, wenn wir wollen.
Dann frage ich sie nach ihrer Arbeit. Sie wird ernst, sagt, es sei schwierig, daß sie eine lange Liste von Patientinnen habe, die schlecht behandelt wurden, daß sie morgens mit bleiernen Gliedern erwache. Sie gibt zu, daß sie zuwenigschlafe, hofft, mich mit der Musik, die sie spielt, nicht zu stören. Joni Mitchell bis spät in die Nacht.
»Mir gefällt sie«, sage ich. »Die helle, klare Stimme. Die reinen, schönen Melodien. Sie erinnert mich an Schubert.« »Ich kann nicht leben ohne sie«, sagt sie.
Und sie ist so jung, wenn sie das sagt, so wie
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