Der Fluß
zurück in Anjas Zimmer, in meine neue Studentenbude. Die Kerze brennt noch. Ich blase sie vorsichtig aus.
Dann schlüpfe ich aus dem Bademantel und lege mich nackt ins Bett.
Seltsam, hier zu liegen. Als ich das letztemal hier lag, war es mit Anja, und ich war bekleidet.
Die Nacktheit macht mich unruhig. Ich weiß nicht, was ich mit meinem Körper anfangen soll. Das Bettzeug ist von Marianne Skoog, sie hat es aufgezogen. Es ist weiß, kühl und glatt. Sicher von hoher Qualität. Alles in diesem Haus ist von hoher Qualität.
Da höre ich plötzlich von unten Musik.
Sie dringt aus dem Fußboden, direkt unter mir.
Demnach befindet sich Anjas Zimmer direkt über den AR-Lautsprechern, dem McIntosh-Verstärker und dem Garrard-Plattenspieler. Das ist lauter, als ich gedacht habe. Ich höre eine Gitarre und eine Stimme, die auf englisch singt. Sicher diese Joni Mitchell, denke ich. Klingt einfach und schön. Es wundert mich, daß Anjas Mutter diese Art von Musik mag, aber ich möchte darüber kein Urteil fällen.
Der Körper beruhigt sich. Schließlich schlafe ich ein.
Als ich wieder erwache, weiß ich, daß ich in Anjas Zimmer im Elvefaret bin. Ich weiß, daß es spät ist und daß Marianne Skoog noch nicht schlafen gegangen ist.
Der kleine Wecker zeigt 02.34.
Von unten klingt immer noch Musik nach oben. Dieselbe Musik. Habe ich geschlafen? Nein, denke ich. Eine Plattenseite ist sehr kurz. Maximal 24 Minuten. Und ich erkenne die Melodie wieder. Etwas mit »Morgantown …«. Das erste Stück auf der Platte, jedenfalls beim vorigen Mal, als ich es hörte.
Dann hat sie wieder angefangen. Bin ich deshalb wach geworden?
Ich liege still im Bett und denke, verspüre eine Unruhe. Muß sie nicht morgen früh in die Arbeit? Will sie nicht zwischen 7 und 8 im Bad sein?
Es kommt noch ein Lied. Etwas mit »For free …«. Und danach ein wilder Lärm mit vielen Gitarren. Die helle Jungmädchenstimme. Ja, sie ist schön. Joni Mitchell. »He comes for conversation …«
Die Neugier nimmt überhand. Ich stehe auf, ziehe mir den Bademantel an. Von der untersten Treppenstufe kann man gleichzeitig in die Küche und ins Wohnzimmer sehen.
Ich schleiche nach unten, stelle zu meiner Freude fest, daß die Treppe nicht knarrt. Jetzt ist die Titelmelodie an der Reihe. »Ladies of the Canyon«.
Sie sitzt in der Küche. Ich stehe im Schatten und kann sie sehen. Sie kann mich nicht sehen. Sie ißt die Reste der Hähnchenbrust. Den Salat. Sie geht zum Kühlschrank. Holt die Milch heraus, trinkt direkt aus der Flasche.
Es ist merkwürdig, sie in der Küche hantieren zu sehen. Sie ißt im Stehen. Ihre Bewegungen sind langsam, erinnern an einen Schlafwandler. Schläft sie in Wirklichkeit?
Ich ziehe mich zurück und gehe hinauf in mein Zimmer, lege mich ins Bett. Ich möchte sie nicht heimlich beobachten, denke ich beschämt.
Die Musik klingt immer noch.
Ich schlafe todmüde mit einem traurigen und unruhigen Gefühl in mir ein.
Als ich am nächsten Morgen erwache, ist es halb neun. Ich erwache vom Zuschlagen der Haustür. Es ist Marianne Skoog, die zur Arbeit geht.
Allein im Elvefaret
Das Haus ist so still, denke ich, als ich im Bad fertig bin und die Treppe zur Küche hinuntergehe. Seltsam, hier ganz allein zu sein. Ich habe das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, als würde mich ein unsichtbares Auge beobachten, als würde jeden Moment ein Alarm ausgelöst werden. Dabei denke ich vor allem an Bror Skoog. Er mochte es nicht, wenn ich mit Anja allein war. Er würde es noch viel weniger mögen, daß ich hier ganz allein bin, während Marianne Skoog in der Praxis ist. Vor einigen Monaten lebte er noch. Anja lebte auch. Sie war so entkräftet, daß sie meistens in ihrem Zimmer im Bett lag – wie auch an dem Tag, an dem er sich ohne Vorwarnung im Keller erschoß. Ich muß Marianne fragen, was eigentlich passiert ist, denke ich. Außerdem muß ich mit meinem Leben vorankommen. Dieser Tag soll einen Neuanfang darstellen. Ich verlasse das Haus und gehe den Melumveien hinauf zum Røa Sentrum, wo ich bei Randklev einkaufe. Milch, Kaffee, Brot, Käse, etwas Wurst. Das reicht für eine Weile. Ich brauche in diesen ersten Tagen keine große Mahlzeit. Wenn ich Lust auf etwas Warmes habe, kann ich mir einen Käsetoast machen. Wieder im Haus, richte ich mir ein Frühstück, versuche, mich hinzusetzen und zu essen, bin aber zu unruhig. Ich laufe mit meiner Scheibe Brot von Zimmer zu Zimmer, es kommt mir alles so unwirklich vor. So muß sich
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