Der Fluß
schlafen. Ich bin froh, dich im Haus zu haben, Aksel.«
»Und ich bin froh, hier zu sein.«
Ich fühle mich verlegen. Sie nickt.
Dann geht sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und legt wieder Joni Mitchell auf.
Ich schlafe mitten in »Rainy Night House« ein.
Tage und Nächte im Regen
Ja, der Regen kommt. Das paßt mir gut. Auch Anja liebte den Regen. Die Tage finden ihr Muster. Marianne geht morgens zur Arbeit. Ich warte mit dem Aufstehen, bis ich höre, daß die Haustür ins Schloß fällt. Dann gehe ich ins Bad, dusche lange, genieße ihren Duft, der noch im Raum hängt. Der Geruch nach weiblicher Haut und frischem Parfum. An manchen Tagen ist es der Geruch nach Calendula. Die gleiche Creme, die Anja benutzte. Meistens ist es Lilienduft. Lily of the Valley.
Nach dem Anziehen frühstücke ich in der Küche und stelle voller Freude fest, daß langsam die alte Arbeitslust wieder da ist. Das sture Anschlagstraining hat gewirkt. Der Flügel fängt an, sich meinem Willen zu unterwerfen. Ich starre auf die nassen Tannen vor dem Fenster und empfinde Dankbarkeit für diesen Kontakt mit Anja durch Marianne Skoog, durch das Haus, durch das Bett, in dem sie schlief. Die Trauer fängt allmählich an, zu verschwinden.
In den folgenden Nächten forme ich große Städte, Konzertsäle, nackte Brüste, Menschen mit konkreten Gesichtern, Stimmen und Lauten. Ich träume wieder von Mutter. Sie kommt zu mir und ist liebevoll. Ich liege in ihrem Schoß. Dann träume ich plötzlich etwas unerträglich Süßes mitAnja. Aber als ich erwache und Rebeccas zärtliche Hand vermisse, ist es nur Marianne Skoog, an die ich denke.
Eines Vormittags steht Rebecca vor der Tür, sie sagt, sie komme mitten aus einer ekligen Vorlesung über das Gehirn und das, was ein alter, übelriechender Pathologe darüber weiß. »Ich mußte sehen, wie es dir geht, weißt du«, sagt sie und küßt mich schnell auf den Mund. »Es dreht sich nicht nur darum, Arzt werden zu müssen.«
»Fehlt dir Beethoven nicht?« sage ich. »Fehlt dir nicht unsere Musikgemeinschaft? Fehlt dir nicht all das, was du nicht weißt?«
»Schluß damit«, sagt sie trocken. »Außerdem wollten wir über dich reden.«
»Mir geht es bestens«, sage ich und lasse sie ins Haus.
Sie mustert mich, wie nur eine Frau einen Mann mustern kann, der ihr etwas bedeutet. »Du bist blaß«, sagt sie. »Gehst du nicht an die frische Luft?«
»Selma hat mir das Messer an die Kehle gesetzt.«
»Das glaube ich gerne. Aber egal, wie verrückt sie ist, verfügt sie nicht über all deine Zeit. Ach Aksel, jedesmal, wenn ich dich sehe, habe ich Lust, mit dir zu schlafen, weißt du das? Psst, nichts sagen! Ich weiß, was du denkst. Aber ich habe meinen Christian, daran ist nichts zu ändern. An dir ist nun mal etwas unheimlich Sexuelles. Ich glaubte, männliche Pianisten hätten schweißnasse Finger und einen hohlen Kopf. Du bist nicht so. Außerdem hat dieses Haus etwas Mystisches. Etwas Übererotisches. Ist es Marianne Skoog? Oder ist es Anja, die noch so stark zu spüren ist? Ich liebe dich, wenn du mutig bist. Gleichzeitig mache ich mir Sorgen, daß du dich in eine Beziehung zu dieser Frau verstrickst. Sie ist sogar in Woodstock dabeigewesen …«
»Ich scheiße auf Woodstock. Und Marianne Skoog? Sie könnte meine Mutter sein.«
»Für Männer ist das Alter kein Hindernis. Schlimmer ist es mit uns Frauen, und es ist zum Glück schwer zu glauben, daß sie wirklich etwas in dir sieht. Wenn man fünfunddreißig Jahre alt ist, hat man noch genügend Gleichaltrige oder etwas Ältere zur Auswahl. Aber vielleicht schmeichelt es ihr, daß du sie mit verliebten Blicken anschaust. Widersprich mir nicht. Ich habe es gesehen. In deinem Kopf vermischst du momentan Marianne und Anja. Und das ist es, was mir Sorgen macht.«
»Was macht dir Sorgen?«
»Daß du falsch entscheidest, Aksel. Daß du im Tragischen hängenbleibst. Daß du dich in etwas Hoffnungsloses verrennst und das Glück sausen läßt. Das haben schon viele vor dir getan. Als du sagtest, daß du dich bei Marianne Skoog einmietest, dachte ich, das ist krank. Jetzt, nachdem ich sie kennengelernt und gemerkt habe, daß sie mir sympathisch und ein Supertyp ist, befällt mich trotzdem eine gewisse Unruhe. Deshalb bin ich rasch mal rauf zu dir. Also: Wie geht es dir eigentlich?«
Ich erzähle ihr von meinem Tagesablauf und meiner Arbeit. Ich erzähle ihr von dem fast ereignislosen Leben und daß mich Marianne Skoog jeden Abend mit Joni Mitchell
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