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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Schneewittchen gefühlt haben, denke ich, in den ersten Tagen im Haus der Zwerge, bevor die Zwerge heimkamen. Aber das hier ist kein Märchen. Das ist von jetzt an meine Wirklichkeit . Und die Zeit vergeht, es ist bereits später Vormittag. Ich muß üben. Mir graut davor, zu spüren, wie steif meine Finger vermutlich sind, von den Schlägen mit Selma Lynges Lineal. Aber vorher betrachte ich mir die Bilder von Anja, Marianne und Bror, die auf dem Regal mit den Platten stehen. Unterschiedliche Bilder, am Badestrand, in den Ferien, in einer Stadt, die ich nicht kenne. Das Hochzeitsbild
    Nachdenklich setze ich mich an den Flügel, der großzügig mit geöffnetem Deckel dasteht, und versuche vorsichtig, das D-Dur-Präludium aus dem 1. Teil des »Wohltemperierten Klaviers« zu spielen. Ein Test für meine Technik. Die Töne sollen am besten wie Perlen an einer Schnur kommen, in der genau gleichen Intensität; ich höre, daß es nicht funktioniert. Da spiele ich dasselbe Stück langsam, klopfe sozusagen Ton für Ton wie ein Verschalungsarbeiter. Das klingt besser. Die Schwellung der Finger ist weg. Die Blutstreifen auch. Aber das D-Dur-Präludium ist für die rechte Hand. Ich muß auch die linke Hand ausprobieren. Chopins »Revolutionsetüde«. Schon nach wenigen Takten merke ich, wie der vierte Finger versagt. Ein sicheres Zeichen, daß ich viel zuwenig geübt habe. Ich kann das Tempo nicht bis zum Ende halten. Der ganze Arm wird steif. Würde ich jetzt im Meer schwimmen, müßte ich ertrinken. Ich sitze etwas unschlüssig am Flügel und ruhe den Arm aus. So muß auch Anja gesessen haben. Obwohl, sie erlaubte sich gewiß nie, so aus der Übung zu sein wie ich im Moment, und sie ist auch nicht mit Selma Lynge so in Konflikt geraten, wie ich es gewagt habe.
    In neun Monaten werde ich debütieren. Es eilt, denke ich. In neun Monaten werde ich vermutlich an diesem edlen Steinway sitzen, Modell A mit speziellem Anschlag und einem brillanten Klang dank der sorgfältigen Wartung des Instruments durch Bror Skoog, und zum letztenmal Beethovens op. 110 spielen, bevor ich auf das Podium in der Aula gehe. William Nielsen persönlich hat sich all dieJahre um das Stimmen gekümmert, er, der auch den Flügel in der Aula und die Flügel des Norwegischen Rundfunks stimmt. Sein Kollege Trygve Jacobsen von Grøndahl & Søn übernahm die technische Wartung. Der Flügel hat sich unter seinen erfahrenen Händen »gesetzt«. Er ist nicht ungestimmt, obwohl die letzte Stimmung einige Zeit her ist. Ich könnte Prokofjews ganze siebte und achte Sonate mit voller Kraft spielen, ohne daß sich das Instrument verstimmt. Aber ich habe nicht die Kraft. Die muß ich wiedererlangen durch ein langsames Anschlagtraining, so daß die »Revolutionsetüde« zu einer bloßen Etüde für Fortgeschrittene verkommt. Da bleibt nicht viel Musik. Das ist überhaupt keine Musik mehr. Aber ich muß da durch, muß jedem Anschlag die maximale Stärke geben, wie ich es bei Selma Lynge gelernt habe. Und wenn ich es tatsächlich schaffe, diese Prozedur all diese Monate durchzuhalten, werde ich das Debütkonzert Anja widmen, ja, es soll ein Gedenkkonzert werden für dieses große Talent, das aus noch unbekannten Gründen dahinstarb, aufhörte zu essen, unheimlich abmagerte und wahrscheinlich aus purer Schwäche mitten in Ravels D-Dur-Konzert, das sie mit der Philharmonie spielte und das ihr großer Triumph werden sollte, aus der Solopartie fiel.
    Ein bißchen sentimental, aber trotzdem stärker motiviert, bleibe ich Stunde um Stunde an Anjas Flügel sitzen und übe, finde langsam zu meiner alten Form. Zwischendurch ertrage ich kein stures Üben mehr, da breche ich aus, spiele ein Präludium von Debussy oder »Clair de Lune«, das mir nicht aus dem Kopf geht, weil mir die Vergangenheit so nahe ist. Ich spiele mich auch durch den letzten Teil des Debüt-Programms, das Selma Lynge zusammengestellt hat. Ich will es so schnell wie möglich studieren, um es dann in den Monaten bis Juni parat zu haben, damit ich die Musik nicht auf einmal satt habe. Beethovens op. 110. Das meisteist übersichtlich, aber vor den langen Passagen gegen Ende, in den Fugenpartien, graut mir, und bereits von Beginn an ist da eine undefinierbare Innigkeit im Ausdruck, die weit größere Pianisten als ich nicht gemeistert haben. Die Sonate muß Gewicht haben, und sie muß auf hohem Reflexionsniveau gespielt werden. Das hat mit dem Alter zu tun, denke ich. Diese Musik kann nicht mit jugendlichem

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