Der Fluß
Anja, frühreif, obwohl sie erwachsen ist. Und was macht sie? Verbringt die Abende mit einem unberechenbaren Achtzehnjährigen. Telefoniert nachts in dem verbotenen Zimmer.
»Willst du wirklich nicht, daß ich in mein Zimmer hinaufgehe?« sage ich.
»Nein, bitte nicht. Es ist Freitag. Bleib noch.«
Da habe ich eine Idee. »Wir können füreinander Musik spielen«, sage ich. »Wie wir es in der Gruppe Junger Pianisten gemacht haben. Jeder darf einmal.«
»Wie kindisch«, sagt sie. »Und so nett!«
»Wer fängt an?« sage ich.
»Du fängst an. Aber keine Mahler-Sinfonien, hoffe ich?«
»Versprochen«, sage ich und springe auf, gehe zur Plattensammlung.
Schubert, denke ich. Schubert und Joni Mitchell haben wahrhaftig etwas miteinander zu tun.
»Die Plattensammlung deines Mannes ist genial«, sage ich. »Er muß Musik geliebt haben?«
Marianne Skoog lacht. »Er war Gehirnchirurg, wie du weißt. Er brauchte es, um seine Gefühle zu kompensieren.«
Ja, und dann sprengt er am Ende sein Gehirn in tausend Stücke, denke ich. Aber dann sehe ich, daß sie meine Gedanken errät und traurig wird.
»Ich weiß, wie das ist«, sage ich.
»Nein, du weißt nicht, wie das ist«, antwortet sie.
Für einen Augenblick wird es still zwischen uns. Ich stehe verlegen mit der Platte in der Hand da.
»Reden wir ein anderes Mal darüber«, sagt sie versöhnlich.»Einverstanden«, sage ich. »Könnten wir nicht einen Tag festlegen für all das Schwierige? Bringst du es fertig, mir von Anjas letzten Tagen zu erzählen? Kannst du mir erklären, warum sich Bror Skoog das Leben nahm?«
Es überrascht sie, wie offensiv ich bin. Sie schaut mich beinahe erstaunt an.
»Das ist eine gute Idee«, sagt sie dann. »Aber ich bin nicht in der Lage, hier, in diesem Haus, darüber zu reden, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Wir könnten eine Wanderung auf den Brunkollen machen«, schlage ich vor. »Ich bin einmal mit Anja hinaufgegangen.«
»Ich erinnere mich«, sagt sie mit einem Lächeln. »Du hast mit ihr eine Abkürzung genommen und ihr seid auf einen Schießplatz geraten. Sie ist in deinen Armen ohnmächtig geworden.«
Ich erröte, als sie das sagt. »Das war nicht beabsichtigt«, sage ich. »Aber ich war so verliebt. Konnte nicht mehr klar denken. Ich vergaß, wo der Weg verlief.«
Ich sehe, daß ihr Blick weich wird, wenn ich von Anja spreche. Ihr gefällt, daß ich meine großen Gefühle für sie zu erkennen gebe.
»Laß uns am Samstag auf den Brunkollen gehen«, sagt sie. »Wir brauchen frische Luft um die Ohren.«
»Morgen also?« sage ich.
»Ja, morgen«, nickt sie.
Aber zuerst kommt unsere Musik, unheimlich und voller Möglichkeiten. Wir wissen nicht, was sie für uns ist. Wir wissen nur, daß wir sie brauchen, daß sie Gefühle in uns weckt, die wir gerade jetzt nötig haben, daß sie aufreizend und gefährlich ist, daß sie geeignet ist, uns in dieselbe Tonlage einzustimmen.
Ich beginne mit Schuberts Streichquartett in C-Dur, zweiterSatz. Weiß sie, daß der zweite Satz das letzte war, worüber ich mit Anja gesprochen habe?
Sie ahnt etwas. Denn sie hört wie paralysiert zu, sitzt bewegungslos mit geschlossenen Augen da, atmet die Musik ein, Ton für Ton, in tiefen, langsamen Zügen, gehorsam wie ein Schulmädchen. Und als der Satz fertig ist und ich zum Plattenspieler gehe, öffnet sie die Augen und schaut mich forschend an.
»Du weißt, was du tust, Aksel?«
Ich drehe mich erstaunt zu ihr um.
»Was meinst du?«
»Du bist erwachsen für dein Alter. Ich kenne nicht viele Achtzehnjährige, die so erwachsen wirken. Mädchen vielleicht. Aber nicht Jungs.«
»Ich wurde früh selbständig«, sage ich. »Du doch auch?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortet sie. »Obwohl ich erst achtzehn war, als ich mit Anja schwanger wurde, war da schließlich ein Mann. Seine Bedürfnisse gegen meine Bedürfnisse. Und dann die von Anja.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Nun bin ich an der Reihe«, sagt sie.
Sie dreht sich eine Zigarette. Ich gebe ihr Feuer. Dann greife ich zu meinen Filterzigaretten. Es ist ein Ritual. Ich will ihr zeigen, daß wir im selben Club sind. Ich bin wie ein Kind. Ich will gemeinsam mit ihr rauchen.
Wir sitzen einige Minuten still da und rauchen. Dann steht sie auf und geht zum Plattenspieler. Sie ist groß, schlank und geschmeidig. Sie ist jetzt so alt wie Anja. Sie trägt Jeans. Anja zog sich eher altmodisch an. Marianne Skoog ist modern. Ich mag das.
Sie entscheidet sich für Donovan. Eine
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