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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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ich.
    »Ja, Aksel. Die bist du.«

    Es ist spät in der Nacht. Sie sagt, daß ich jetzt gehen müsse, daß sie etwas Zeit für sich brauche, ob mir das etwas ausmache.
    Sie steht dicht vor mir, und sie weiß, daß ich sie in tiefen Zügen einatme, animiert von dem Miniporträt, das sie mir zeigen wollte, und davon, daß sie sich Gedanken über mich macht, Vorstellungen hat.
    Und ich glaube, ich weiß, was sie meinte, als sie den Baß erwähnte. Aber ich wage nicht, weiter mit ihr darüber zu reden.
    »Manchmal ist es unheimlich«, sage ich, »wie du Anja ähnelst.«
    Aber kaum habe ich das gesagt, sehe ich, daß ich es nicht hätte sagen sollen. Keine Anja gerade jetzt. Wir sind beide müde. Ich sehe es an ihrem Gesicht. Auf dem weißen Saarinen-Tisch stehen zwei leere Weinflaschen.
    »Geh jetzt schlafen«, sagt sie leise.
    Ich nicke gehorsam. Ich wünsche mir, daß sie mich umarmt, daß sie diesmal die Initiative ergreift. Aber das will sie nicht. Nicht einmal eine vorsichtige Berührung. Als könne sie meine Gedanken lesen. Deshalb sage ich nur:
    »Brunkollen? Morgen früh?«
    »Ja«, nickt sie, »aber nicht zu früh.«
    Ich gehe die Treppe hinauf in Anjas Zimmer. Sie bleibt unten im Wohnzimmer.
    An diesem Abend verzichte ich auf das Bad. An diesem Abend putze ich mir nicht einmal die Zähne. An diesem Abend falle ich angezogen ins Bett und schlafe wie ein Stein.
Der sabbernde, stinkende Schubert
    Schubert weckt mich, aber noch ist es ein Traum. Er sitzt in seiner ungepflegten Kleidung da und schaut mich mit traurigem Blick an. Man sieht ihm an, daß er ohne die Fürsorge einer Frau gelebt hat, daß es Abende und Nächte mit Freunden gegeben hat, die ihn verehrten, die aber auch treulos sein konnten.
    »Was willst du?« frage ich und stütze mich halb im Bett auf.
    »Ich will mehr von der Musik hören, die du übst und die ich noch nicht geschrieben habe.«
    »Aber wie soll das gehen?« frage ich verwirrt.
    »Du mußt auf dein Herz hören.«
    »Aber du bist doch nicht in meinem Herzen?«
    »Bin ich nicht?«
    »Gut. Ich verstehe. Natürlich bist du da. Mit deiner Musik.«
    »Genau. Ich bin schließlich aus musikalischen Gründen hier.«
    »Bist du sauer, weil ich dich bei meinem Debüt nicht spiele?«
    »Weshalb sollte ich sauer sein? Beethoven ist der Größte.« »Ist das so? Kann man euch einfach so gegenüberstellen? Würde ich ein Streichinstrument spielen, hätte ich dein C-Dur-Quintett gespielt.«
    »Danke. Das ist nett von dir, spielt aber jetzt keine Rolle. Wir liegen nebeneinander, Beethoven und ich, auf dem Zentralfriedhof in Wien. Das weißt du sicher. Das war so ziemlich das letzte, was ich meinem Bruder Ferdinand aufgetragen habe. Laß mich bei Beethoven liegen. Damals lag er noch auf dem Dorffriedhof in Währing. Dann betteten sie uns um nach Wien. Und hier ist Brahms wieder neben uns. Das ist nett, wir haben immer noch viel miteinander zu reden. Keiner von uns hatte besonderes Glück mit den Frauen, wie duweißt. Aber ich wundere mich die ganze Zeit, was Johann Strauß II in unserem Club zu suchen hat.«
    Ich starre ihn an, bin sprachlos, daß er, der große Franz Schubert, wirklich in meinem, in Anjas Zimmer ist. Fange ich an, verrückt zu werden? Nein, er ist ja da, in meinem Traum. Aber er sieht erbärmlich aus, wie er dasitzt, gezeichnet von den Ausschlägen und Wunden der Syphilis, die er, seit er fünfundzwanzig war, mit sich herumschleppte. Und die folgenden sechs Jahre bis zu seinem Tod war er vom Quecksilber vergiftet, zu seiner Zeit das Mittel gegen Syphilis. Und da sitzt er, mit gefühllosen Händen, Schmerzen, die sich wie ein Band um den Kopf gelegt haben, außerdem unerträglichen Gliederschmerzen und einer deutlichen Unsicherheit beim Reden. Er ist gereizt, und ich ahne, daß man sich hüten muß, ihm zu widersprechen. Aber das schlimmste ist diese Überproduktion von Speichel. Schleimtropfen, die aus seinem Mundwinkel rinnen, die er nicht bemerkt. Das stark gerötete Gesicht und die Flecken auf der Stirn und den Wangen. Das Ergebnis eines teuer erkauften Glücks, ein hektischer Beischlaf mit einer armen Frau in einer Nacht im Jahr 1822. Und er stinkt. Vielleicht besser, daß Anja das nicht erleben muß, denke ich.
    »War es das denn wert?« frage ich.
    »Was denn?« Schubert starrt mich verständnislos an. »Der Liebesakt?«
    »Nein, der nicht. Das vertane Leben.«
    »Ich hatte doch eine Menge fröhlicher Stunden mit meinen Freunden.«
    »Ja, aber war da nicht ein ewiger Kampf gegen

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