Der Fluß
sanfte, ätherische Stimme, die ich noch nie gehört habe. »Oh, I dreamed that I dwelled in the North Country …«
»Ist das nicht schön?« sagt sie.
»Doch, es ist schön«, sage ich. Und ich merke, daß sie sich freut, wenn ich das sage. Vielleicht hat Bror Skoog das nie gesagt. Und Anja auch nicht. Vielleicht war Donovan ihr heimliches Laster. In dem Fall liebe ich ihr Laster.
Ich weiß nicht, was nach Donovan kommen soll. Die feinen, einfachen Melodien. Der gefühlvolle Ausdruck. Zum erstenmal regt sich der Wunsch, eine andere Musik zu kennen als die klassische. Aber was könnte das sein? Vater pflegte Jim Reeves zu spielen, nur um Mutter zu ärgern, und ich war immer auf Mutters Seite, denn sie wurde wütend. Ich suche den zweiten Satz von Brahms’ Violinsonate in A-Dur aus, mit Isaak Stern. Sie ist melodisch und zweigeteilt, zugleich ernsthaft und verspielt. Sie ist so sehr Anja.
»Hör dir das an«, sage ich.
So sitzen wir, Stunde um Stunde, und kommen uns hörend näher. Und jedes Musikstück ist wie ein Satz, ein Versuch, eine Vertraulichkeit, von der wir wollen, daß der andere sie hört. Joni Mitchells Stimme. Debussys Klavierklänge.
»Hör dir das an!« sagt sie und legt die Suite »Judy Blue Eyes« aus dem Woodstock-Album auf. »Ich war dort«, sagt sie voller Freude, fast kindlich stolz.
»Wer war deine Freundin, die dich begleitet hat?« frage ich.
Bei dieser Frage scheint etwas in ihr zu zerbrechen. Ein konkreter Schmerz, als würde man auf Glasscherben treten.
»Das wirst du morgen erfahren«, sagt sie.
Ich versuche, es wiedergutzumachen und will Bruckner spielen. Die bekannte Eröffnung der vierten Sinfonie.
»Können wir nicht auf Bruckner verzichten«, sagt sie.
»Magst du Bruckner nicht?« frage ich.
»Doch, das ist es nicht. Aber Bruckner, das ist für mich momentan zuviel Bror.«
»Er liebte Bruckner?«
Sie nickt langsam. »Er konnte nicht leben ohne Bruckner. Bruckner war Klarheit und Trost. Das war es, wonach er sich sehnte. Stell dir Anja und ihren Vater vor, jeder in seinem Barcelona-Stuhl, aufmerksam dem fürchterlichen Scherzo von Bruckners neunter Sinfonie lauschend. Wie der Tag des Gerichts, nicht wahr? Dies irae, der Tag des Zorns. Als schwinge jemand die Geißel über dir, und du hast das Gefühl, zu kurz zu kommen. Das Scherzo paßte auf merkwürdige Weise zu ihnen. Sie sehnten sich beide nach Strenge, Ordnung, Disziplin, Gesetz. Vielleicht sogar Strafe. Aber ich ertrage gerade jetzt in meinem Leben nicht noch mehr Strenge oder Strafe.«
»Aber die vierte Sinfonie ist reine Liebe«, versuche ich meine Wahl zu erklären und zu verteidigen.
Sie schüttelt energisch den Kopf, mit geschlossenen Augen. »Ich bin von der Liebe zerstückelt«, sagt sie. »Versuch mich bitte zu verstehen.«
»Natürlich«, sage ich. »Du bist an der Reihe.«
Sie an der Reihe? Sie zögert. Schaut auf die Uhr.
»Wir müssen schlafen gehen«, sagt sie.
»Müssen wir?« sage ich. »Das mit Bruckner war dumm von mir. Kannst du die schlechte Stimmung nicht retten?«
Sie lächelt. Tätschelt meine Wange. »Du bist süß, Aksel«, sagt sie und steht auf. »Na gut«, sagt sie. »Dann weiß ich, was ich spielen werde. Aber es ist dir sicher zu banal.«
»Ich fürchte mich nicht vor dem Banalen«, sage ich. »›Menschen, die die Sentimentalität verleumden, sind selbstgerecht und überheblich‹, sagte Mutter einmal.«
»Schön gesagt«, sagt Marianne Skoog. Ich habe sicher mit meinem Rock und meiner Popmusik Anja und Bror geärgert. Aber Menschen, die an einem Samstagabend die Weltuntergangsmusik von Bruckner hören wollten, haben eine Richtungsänderung nötig, dachte ich damals. Wir hatten auch Abende wie diesen. Bror hatte einen Hang zumPathetischen und hielt vor jedem Musikstück, das er spielen wollte, lange Vorträge. Dann legte ich aus reiner Rache die Rolling Stones auf.«
»Was hat Anja dazu gesagt?«
»Sie litt darunter, für sie war das ein musikalischer Streit zwischen ihren Eltern.«
»Mochte sie denn die Musik, die du spieltest?«
»Selten. Meistens war es ihr gleichgültig. Obwohl, Joni Mitchell liebte sie. Wollte mehr von ihr hören. Besonders ein Lied auf der ersten Platte. Ich mag es dir nicht vorspielen, da fange ich an zu weinen. Es heißt ›Song to a Seagull‹. Beim letzten Vers standen immer Tränen in ihren Augen: ›I call to the seagull, who dives to the waters, and catches his silver-fine dinner alone. Crying where are the footprints, that danced on these
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