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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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die Armut? Die Musik soll uns Freude schenken. Aber bei dir war sie die eigentliche Ursache für ein trostloses Leben. Du hättest auf eine andere und bessere Weise Geld verdienen können.«
    Schubert schaut mich verwundert an. »Denkst du in solchen Kategorien? Denkst du an die Kosten?«
    »Anja Skoog ist wegen der Kosten gestorben. Der Preis, den sie bezahlte, war ihr Leben. Wie bei dir. Rebecca Frost hat mich auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Ist die Kunst wirklich so wichtig? Statt mir Mahlers dritte Sinfonie anzuhören, hätte ich ebensogut einen Spaziergang in der Natur machen können. Hätte man dabei nicht dasselbe Erlebnis gehabt?«
    »Tja. Hätte man es gehabt?« Schubert hat jetzt Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Er stottert wie ein alter Mann. Daran ist die Quecksilbervergiftung schuld und die Lähmung der Zunge. »Dann stell dir mal vor, daß es all diese Musik nicht gibt«, sagt er. »Du hast jetzt Joni Mitchell entdeckt. Ich mag sie. Wenn du genau hinhörst, wirst du Ähnlichkeiten entdecken zwischen ihrer und meiner Liederkunst, obwohl Kanada von Österreich ziemlich weit entfernt ist. Was wäre, wenn du sie nicht gehört hättest? Was wäre, wenn du in die Natur gingst ohne mich, ohne Beethoven, ohne deinen geliebten Brahms? Du würdest ohne einen einzigen Ton im Kopf durch die Natur gehen. Verfolgen wir den Gedanken noch weiter. Du würdest dich auch an kein einziges Buch erinnern, an kein einziges Bild, das du gesehen hast, an keine Skulptur, kein Theaterstück, keinen Tanz. Die Kunst wäre einfach nicht da. Sie existierte nicht in deinem Leben. Es gäbe nur dich und die Natur. Glaubst du, du würdest etwas vermissen? Einen Bezug zu etwas Menschlichem? Manchen genügt die Natur. Aber auch die Natur ist abhängig von Augen, die sie sehen, von einem Menschen, der nachdenkt, von einem Gefühl, das sich von unserem trivialen Alltagsleben abhebt. Für mich war das nie eine Frage der Wahl. Die Entscheidung war gefallen, weil ich ein Mensch war. Nicht jeder kann ein Komponist sein. Es kann aber auch nicht jeder ein Bauer sein. Wer entscheidet für uns? Ist es Glück, das wir uns wünschen? Sich wohl fühlen und es nett habenum jeden Preis? Sehnen wir uns nicht eher nach einem Sinn?«
    »Und du meinst, die Musik ist Sinn genug?«
    Schubert antwortet nicht. Er starrt auf seine Zehen. Speichel tropft aus seinem Mund. Er ist alles andere als schön, ein toter Einunddreißigjähriger, und er weiß das. Er liegt neben Beethoven auf dem Friedhof. Er freut sich, auch Brahms in seiner Nähe zu haben. Er ist ein genügsamer Mann. Genügsam in der Liebe. Genügsam in der eigenen Berühmtheit.
    »Spiele das, was ich noch nicht geschrieben habe«, sagt er. »Nimm dir die Zeit und lies die Noten sorgfältig. Dann sollte das übrige einfach sein.«
Brunkollen mit Marianne Skoog
    Als ich am Morgen erwache und aus dem Fenster schaue, ist ein Vogel schon weit oben am Himmel. Zuerst halte ich ihn für eine Drossel. Dann sehe ich, wie hoch er fliegt.
    Es ist ein Habicht.
    Er wartet auf mich.
    Er hat schon einmal auf mich gewartet. Er hat mich zusammen mit Anja gesehen. Er weiß, was ich denke, was ich fühle, was ich tue.
    Er ist hier, um mich zu warnen.
    Er hat mich vor allen schlimmen Ereignissen gewarnt. Er kam, wenn es ernst wurde. Wird es jetzt ernst?

    Ich gehe ins Bad und merke, daß ich am Vorabend zuviel Wein getrunken habe. Dann fällt mir plötzlich der Traum mit Schubert ein. Ein etwas beklemmendes Gefühl, mit weltberühmten Menschen im Traum zu sprechen. Er war so klar und direkt. Und gleichzeitig so krank.
    Anja war krank, denke ich. Und heute werde ich mit ihrer Mutter über schwierige Dinge sprechen. Sie ist bereitsaufgestanden. Der Spiegel im Bad ist beschlagen, der Boden in der Dusche ist naß, und es duftet nach Lily of the Valley.
    Ich schaue auf die Uhr. Es ist nach elf. Für Samstag und Sonntag haben wir keine Absprache. Deshalb gehe ich davon aus, daß dieselben Regeln gelten wie an den Werktagen. Als ich in die Küche komme, sitzt sie immer noch am Tisch. Sie hat eine weiße Baumwollbluse angezogen und Bluejeans. Die Haare sind zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Das macht die Stirn größer. Der hübsche Bogen zu den Schläfen wird sichtbar. Da wirkt sie jünger.
    »Ich kann warten«, sage ich.
    Sie blinzelt herauf zu mir, sieht blaß und müde aus, lächelt aber ihr helles Anja-Lächeln.
    »Nein«, sagt sie. »Setz dich her und iß etwas, wenn du Lust hast. An den Wochenenden

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