Der Fluß
letztesmal höre ich ihre Stimmen, bevor ich sie sehe. Ich erkenne sie sofort wieder. Es sind dieselben Studenten! Die Bande aus Røa! Sie sind mit Bier und Schnaps ausgerüstet, haben Schlafsäcke mitgebracht, genau wie letztesmal. Da soll kräftig gefeiert werden.
Ich bleibe unvermittelt stehen. »Das ist unglaublich«, sage ich.
»Was denn?« fragt Marianne Skoog. Sie wirkt abwesend, scheint in ihrer eigenen Welt zu sein.
»Die waren voriges Mal, als ich mit Anja ging, auch hier!«»Es ist nichts Ungewöhnliches, daß Studenten am Brunkollen übernachten«, sagt Marianne Skoog.
»Nein, aber ich erinnere mich, daß die Situation unangenehm war«, sage ich. »Sie haben Anja auf rohe und unzweideutige Weise angemacht. Wir fühlten uns bedroht.«
»Ja«, nickt Marianne Skoog. »Jetzt sehe ich es.« In dem Moment ruft einer der Studenten.
»Hallo ihr beiden! Euch haben wir schon einmal gesehen!« Beim letztenmal waren Anja und ich so weit weg, daß wir nicht antworten mußten. Aber diesmal müssen wir direkt an ihnen vorbei, um zu der Stelle beim Aussichtspunkt zu kommen, die ich ausgesucht habe.
»Kann sein«, sage ich kurz.
»Habt ihr inzwischen geheiratet«, fragt ein zweiter. Er hat bereits gehörig getankt.
Marianne Skoog stößt mich an. »Laß sie reden und beachte sie nicht.«
Aber die Studenten geben nicht auf. Sie schauen sich gegenseitig an und dann Marianne Skoog. Ich sehe, daß es ihr unangenehm ist. Der eine Student nähert sich uns mit einer Bierflasche in der Hand.
»Laß uns in Ruhe«, sage ich.
Er übersieht mich vollkommen, interessiert sich nur für Marianne Skoog.
»Laß uns in Ruhe, junger Mann«, sagt jetzt Marianne Skoog scharf und hebt abwehrend eine Hand. Ich habe sie nie mit solcher Autorität reden hören. »Und schönes Wochenende zusammen!« fügt sie hinzu.
Das wirkt. Der Student nimmt sich zusammen. Er verbeugt sich beinahe.
»Danke, ebenfalls«, sagt er. »Werdet ihr auch übernachten?«
»Nein«, erwidert Marianne Skoog. »Wir machen nur ein Picknick zu zweit.«
Er nickt vielsagend.
»Viel Vergnügen«, sagt er fast freundlich und geht zurück zu seinen Kameraden, die jetzt nüchterner sind. Sie folgen uns mit den Augen bis zum Aussichtspunkt, wo ich einen umgefallenen Baum kenne, der uns als Sitzplatz dienen kann.
Kaum sind wir aus ihrem Gesichtsfeld, lobe ich sie.
»Du kannst dich aber durchsetzen«, sage ich.
»Ich bin es in meinem Job gewöhnt, mit jungen Leuten zu reden. Und da geht es um viel schwierigere Dinge.«
»Sie haben nicht gemerkt, daß du nicht Anja bist. Sie haben nicht gesehen, daß siebzehn Jahre zwischen uns sind.«
»Ich bin stolz und glücklich, wenn man mich mit Anja verwechselt«, sagt Marianne Skoog.
Vertrauliches am Aussichtspunkt
Wir haben uns auf den umgefallenen Baumstamm gesetzt.
»Darin liegt wohl auch eine Art von Symbolik«, sagt Marianne Skoog.
»Wie meinst du das?« frage ich.
»Daß wir auf einem umgefallenen Baumstamm sitzen.« Sie atmet tief durch, während ich den Rucksack öffne. »Es ist, als würden sie mich hinunter in ihre Finsternis ziehen, Aksel. In solchen Momenten weiß ich nicht, wie ich weiterleben soll.«
»Sag so etwas nicht«, sage ich und hole den Wein, die zwei Gläser und die Schokolade heraus.
»Schon wieder Wein?« sagt sie, ohne ablehnend zu wirken. »Vielleicht zum Abgewöhnen?«
Sie prüft das Etikett. »Weißwein. Chablis. Doch, der ist gut. Wie aufmerksam von dir, Aksel.«
»Das ist doch selbstverständlich. Anja wollte damals übrigens keinen Wein.«
»Natürlich nicht, sie war erst sechzehn Jahre alt!«
»Ja«, sage ich. »Ich dachte immer, Anja sei älter, als sie war.«
»Umgekehrt hältst du mich für jünger.«
»Ich denke eigentlich gar nicht an das Alter.«
Sie nickt. Trinkt aus dem Glas, das ich ihr eingeschenkt habe.
»Vielleicht erscheine ich jung, weil ich nie erwachsen geworden bin.«
»Bist du nicht?«
»Nein, nicht so richtig. Nicht einmal jetzt. Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl. Außerdem waren von Anfang an die Probleme der Jugend mein Arbeitsgebiet, Schwangerschaft und Abtreibungen, was eben Jugendliche betrifft.«
»Nicht nur«, sage ich. »Meine Mutter war auch bei dir in Behandlung.«
»Klar. Als Frauenärztin muß ich schließlich alle Altersgruppen abdecken.«
»Weswegen ist Mutter damals zu dir gekommen?«
Marianne Skoog berührt leicht meinen Arm. »Als wir das letztemal darüber sprachen, sagte ich dir, daß ihr nichts fehlte. Aber das stimmt nicht.
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