Der Fluß
verlor, weil ich ihnfesthielt, weil ich wußte, daß es zu spät war, weil ich nicht wollte, daß sie beide sterben.
Mehr war nicht, nur Marianne Skoogs kurzer Händedruck. Ich schaue sie dankbar an. Und dann müssen wir aussteigen.
Ich werfe einen kurzen Blick hinauf zum knallblauen, wolkenlosen Septemberhimmel.
Der Habicht ist glücklicherweise nicht da.
Schweigend gehen wir die ersten Kilometer hinauf zum Østernvann. Manchmal begegnen uns Menschen, die sie kennt. Relativ junge Paare, verheiratet oder befreundet, vielleicht sind die Frauen ihre Patienten? Hat sie ihnen Ratschläge für eine Abtreibung erteilt? Hat sie ihnen wichtige Aufklärung in Sexualfragen gegeben? Ich habe mir vielleicht viel zuwenig Gedanken darüber gemacht, daß sie eine wichtige Arbeit ausübt, daß sie Gynäkologin ist mit Verbindungen zum Verein Sozialistischer Ärzte, daß sie Partei ergriffen hat und engagiert ist, daß sie jeden Tag Menschen behandelt, die nicht wissen, welche Entscheidung sie treffen sollen, die aus einem wichtigen und intimen Grund zu ihr kommen, aus Angst oder voller Hoffnung.
»Woran denkst du?« fragt sie, als wir das steile Stück nach dem Østernvann in Angriff nehmen.
»Ich denke daran, daß ich so wenig über deine Arbeit weiß«, sage ich.
»Schön, daß du es zugibst«, sagt sie. »Ihr Männer kommt meistens viel zu billig davon.«
»Redest du von Schwangerschaften?«
»Ja«, nickt sie. »Gewollte und ungewollte. Wenn der Verein Sozialistischer Ärzte im nächsten Jahr eine Klinik für sexuelle Aufklärung eröffnet, wird es spannend sein zu sehen, wie viele junge Männer erscheinen. Aber ihr solltet erscheinen.«
Ich denke plötzlich an Anja, wie wenig sie mir von ihrer Mutter erzählte. Sie redete ungern von ihr. Sie war ein Papakind.
»Wußte Anja viel über deine Arbeit?« frage ich.
»Bror war wie ich Mitglied im Verein Sozialistischer Ärzte, dessen Zweck die Volksaufklärung ist. Anja wurde natürlich einbezogen. Hat sie dir nichts von meiner Arbeit erzählt?«
»Wir sprachen meistens über Musik«, gestehe ich.
»Und außerdem war sie ein Papakind«, erklärt Marianne Skoog sachlich.
Es sind nicht so viele Wanderer unterwegs, wie ich gedacht hatte, vielleicht, weil Samstag ist. Der Wald in seinem herbstlichen Glanz gehört uns fast allein.
»Sollen wir jetzt über die schwierigen Fragen reden?« frage ich.
Sie drückt schnell meine Hand und läßt sie wieder los. »Können wir nicht noch ein bißchen warten«, sagt sie. »Da wird in jedem Fall sehr viel Schmerzhaftes in mir geweckt. Wir reden, sobald wir oben auf dem Gipfel sind.«
»Bist du dir trotzdem sicher, daß es richtig ist, darüber zu reden?«
»Danke, daß du fragst, Aksel. Ja, es ist richtig. Du warst Anjas bester Freund. Du hast sie geliebt. Du sagtest, daß sie vor deinen Augen zerfiel und starb. Gib mir noch ein bißchen Zeit. Einfach ein bißchen frische Luft.«
Wir gehen nebeneinander den langen Anstieg hinauf und tun so, als seien wir Freizeitsportler. Aber das sind wir nicht. Ich merke, daß sie schneller außer Atem gerät als ich, daß sie in schlechter Kondition ist. Als sie in einer Wegkehre stehenbleibt, weiß ich, was sie will.
Sie dreht sich eine Zigarette. Ich hole Zündhölzer und eine Filterzigarette aus der Jackentasche. Dann gebe ich uns beiden Feuer.
Da ist der Habicht wieder. Hoch am Himmel. Direkt hinter uns.
Aber sie bemerkt ihn nicht.
Dann folgen wir weiter dem Waldweg nach oben. Mir fällt wieder alles ein, was mir Anja erzählt hat, als ich mit ihr hier ging, all das, was sie und ihr Vater geheimgehalten hatten. Daß sie bei Selma Lynge studierte. Daß niemand sie kannte, als sie kam und uns im unklaren ließ, als sie den »Juniormeister Klavier« gewann.
Das war im Sommer. Anfang Juni. Anja war sechzehn Jahre alt geworden. Es lag Hoffnung in der Luft.
Jetzt ist auf einmal eine gedrückte Stimmung zwischen Marianne Skoog und mir. Ich merke, daß sie angespannt ist. Ich möchte sie zu nichts zwingen. Aber ich führe sie trotzdem unbeirrt hinauf zum Brunkollen. Ich muß begreifen und verstehen, was zwischen Anja und Bror Skoog war. Marianne Skoog ist nicht dumm. Sie weiß, daß es Gerüchte gibt. Daß die Leute ihre Meinung haben über das, was passiert ist. Aber niemand hat offen darüber gesprochen. Nicht einmal Rebecca und ich. Gespräche über Anja und Bror Skoog wurden abgebrochen, fast bevor sie begannen.
Wir haben die Hütte erreicht. Eine Gruppe Studenten sitzt davor. Wie
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