Der Fluß
gestalten wir es so, wie es uns am besten paßt. Wir ekeln uns ja nicht voreinander, oder?« Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
»Ich kann deine Gegenwart ertragen«, sage ich mit einem vorsichtigen Lächeln.
Ich warte, ob sie etwas über den vergangenen Abend sagt. Aber sie sagt nichts. Vielleicht sollte ich etwas sagen? Sollte mich für die Lieder bedanken, die sie aufgelegt hat. Für das Miniporträt?
Nein, ich beschließe, nichts zu sagen.
Sie vertieft sich in Aftenposten , liest über die drei Passagierflugzeuge, die entführt und gezwungen wurden, im Mittleren Osten zu landen.
Es ist gut, ihr gegenüberzusitzen, zu frühstücken und nicht zu reden. So saß ich auch mit Rebecca, als wir in ihrem Ferienhaus waren. Sieht so das Glück aus? denke ich.
»Danke übrigens für den gestrigen Abend«, sagt sie plötzlich und blickt von der Zeitung auf. »Das war wirklich schön.« »Für heute nacht«, korrigiere ich. »Ich hätte früherschlafen gehen sollen, aber dann hätte ich Simon & Garfunkel versäumt.«
Sie nickt. »Haben sie dir gefallen?«
»Mir gefällt alles, was du spielst«, sage ich.
»Das hätten Bror und Anja hören sollen«, sagt sie. »Mit ihnen war es hoffnungslos.«
»Aber ›Bridge Over Troubled Water‹?«
»Sie hörten höflich zu, dachten aber immer an eine andere Musik.«
»Du warst die Jüngste«, sage ich. »Und bist immer noch jung.«
»Ich bin nicht mehr jung«, sagt sie bestimmt. »In diesem Sommer ist aus mir eine alte und desillusionierte Frau geworden. Das ist traurig, aber wahr. Das einzige, was mich lebendig hält, ist meine Arbeit.«
»Ich glaube dir nicht«, sage ich. Heute fühle ich mich stark. Der gestrige Abend und der Traum mit Schubert haben etwas bewirkt in mir. Ich habe einen neuen Glauben an mich und meine Möglichkeiten.
»Es handelt sich nicht um glauben«, sagt sie. »Es ist einfach die Wahrheit.«
»Man sieht es dir jedenfalls nicht an«, sage ich.
»Nicht?« Sie lächelt traurig. »Daraus läßt sich vielleicht etwas machen.«
Eine Stunde später gehen wir den steilen Melumveien hinauf. Ich habe einen kleinen Rucksack dabei, habe eine Flasche Weißwein und zwei Gläser eingepackt. Außerdem eine Tafel Schokolade. Was denken sie wohl, denen wir begegnen, die uns kennen und beklommen grüßen? Sind das Mutter und Sohn? Sind es zwei, die die Trauer verbindet? Wird jemand annehmen, daß wir ein verliebtes Pärchen sind, obwohl siebzehn Jahre zwischen uns liegen? Die sozialistische Ärztin und der merkwürdige, einsameKlavierstudent. Ich fühle mich verlegen bei diesem Gedanken. Vielleicht auch, weil ich mir über den Altersunterschied einfach keine so großen Gedanken mache, anders als sie. Sogar die Art, wie Marianne Skoog geht, erinnert mich an Anja. Aber Marianne Skoog ist keine junge und übermütige Klavierstudentin. Sie ist eine erfahrene Gynäkologin. Mit radikalen Ansichten. Sie kämpft für das Recht auf Abtreibung. Sie ist Witwe. Und sie hat eine Tochter verloren. Sie versucht, wieder ins Leben zurückzufinden, und ich, der Untermieter, bin eines der Werkzeuge, die sie gewählt hat. Deshalb fühle ich eine Verantwortung, deshalb muß ich behutsam eintreten in ihre Welt, darf nichts zerstören durch Achtlosigkeit und Impulsivität, Gefühle, die mich zu überrollen drohen. Obwohl ich weiß, wie alt sie ist, höre ich nicht auf, an sie zu denken, nach Spuren zu suchen, die mich in Anjas Welt führen, wo die Gefühle groß und überschäumend sind, wo alles geschehen kann.
Sie merkt, daß ich über etwas nachdenke, das mit ihr zu tun hat, und entfernt sich ein bißchen von mir. Sie hat die gleiche, ein bißchen scheue Art, die Anja hatte und die eine solche Stärke ausstrahlt. Wir setzen unseren Weg fort, jeder in seiner Welt, und sind uns trotzdem bewußt, daß wir nebeneinandergehen, ein seltsames Paar, unterwegs zur Haltestelle Røa. Daß wir nicht miteinander reden, ist jetzt nicht so natürlich wie vor kurzem, als wir still am Küchentisch saßen. Auch in der Straßenbahn bleiben wir schweigsam. Aber als die Bahn am Lysakerelven über die Brücke fährt, blicken wir beide in die gleiche Richtung, hinüber zum Zigeunerfelsen, der wie eine spitze, steinerne Nase aus dem Fluß ragt, und da drückt sie rasch meine Hand, denn sie weiß, daß ich jetzt an Mutter denke, die sich an den Stein klammerte, die sich nicht halten konnte und von der Strömung mitgerissen und zum Wasserfall getrieben wurde, die Vater mit der Hand packte, aber wieder
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