Der Fluß
Sie hatte starke Menstruationsprobleme. Gewaltige Monatsblutungen.«
»Alles an Mutter war gewaltig.«
»Dafür solltest du dankbar sein. Sie war eine starke, selbständige Frau.«
»Sie war ein großer Vogel in einem zu kleinen Käfig«, sage ich.
»Das trifft auf viele Frauen zu«, sagt Marianne Skoog.
»Was ich dir jetzt erzähle, Aksel, fällt mir nicht leicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, es zu tun. Andererseits habe ich das Gefühl, daß ich dir das schuldig bin. Du sagst, du würdest nie an unseren Altersunterschied denken. Du bist 1952 geboren. Ich bin siebzehn Jahre frühergeboren, also 1935. Du denkst sicher, aha, jetzt will sie vom Zweiten Weltkrieg erzählen und daß sie zehn Jahre war, als der Frieden kam. Aber es ist etwas anderes, warum der Altersunterschied eine Bedeutung hat, jedenfalls für mich. Weißt du, was das ist? Es ist das Jahr 1964. Da kam das erste Gesetz für eine gesetzliche Abtreibung. Da wurden Kommissionen aus je zwei Ärzten eingerichtet, die prüfen sollten, ob das Austragen des Kindes bei der Frau zu ›gesundheitlichen Beeinträchtigungen‹ führen könnte, wegen der ›Lebensverhältnisse und anderer Umstände‹, wie es hieß. Bis dahin hatten wir nur die Stricknadeln oder die Engelmacherinnen mit ihren lebensgefährlichen Eingriffen. Du hast mehrmals gesagt, daß ich sehr jung war, als ich Anja zur Welt brachte. Und du hast recht. In diesem Teil der Welt ist man jung, wenn man mit achtzehn Jahren ein Kind bekommt. Aber es ist auch nicht so selten oder unnormal. Nicht selten oder unnormal ist allerdings, daß noch viel jüngere Frauen aus Ahnungslosigkeit von Männern schwanger werden, die sich ihrer Verantwortung nicht bewußt sind. Ich kann mir gut vorstellen, was die charmanten Bengels hinter uns tun würden, wenn sie ein Mädchen ins Unglück bringen würden. Du weißt, wie eine sechzehnjährige Frau ist, Aksel, und vielleicht ist das der Grund, warum ich das alles erzähle. Du weißt, wie erwachsen Anja war und gleichzeitig Kind, wie sie war auf eurer Wanderung vorigen Sommer. Aber Anja war stark und klug. Sie war reif. Ich dagegen war eine unreife Sechzehnjährige, als ich vom Nachbarsjungen schwanger wurde. Das war, kurz bevor ich Bror kennenlernte. Ich hatte gerade mit der Oberstufe des Gymnasiums begonnen. Ich wollte mich in keiner Weise der Verantwortung entziehen. Aber was glaubst du wohl, habe ich gemacht? Freudestrahlend zu den Eltern gerannt und gerufen: ›Ich bekomme ein Kind!‹? Nein, ich wurde von Panik erfaßt. Und noch heute, zwanzig Jahre danach, erinnereich mich an dieses Gefühl, total allein, leer und verzweifelt zu sein. In meiner Familie waren alle stets tüchtig und erfolgreich. Schon als ich vierzehn war, wurde bestimmt, daß ich Medizin studiere. Da gab es nichts zu diskutieren. Und ich diskutierte nicht.«
»Aber warst du nicht stark?« frage ich vorsichtig. »Hast du nicht bereits damals etwas von der Stärke gehabt, die du mir heute zeigst?«
»Welche Stärke? Das Selbstbewußtsein kam viel später. Ich hatte eine Todesangst. Ich erzählte niemandem von meiner Situation. Nicht einmal meiner Mutter, der ich mich vielleicht hätte anvertrauen können. Ich hatte Panik. War zu keinem klaren Gedanken fähig. Ich saß in meinem Zimmer und fummelte mit Stricknadeln. Abend für Abend. Die schlimmste aller Methoden. Vielleicht war es eine Art der Selbstbestrafung. Die Stricknadeln sollten mich stechen, sollten mir weh tun, sollten etwas in mir töten. Schließlich gelang es. In der kleinen Toilette im Untergeschoß, mutterseelenallein, abortierte ich, direkt vor der Englischzwischenprüfung. Ich wurde ohnmächtig vor Schmerz. Ich dachte nur daran, daß dieses Geheimnis allein meines bleiben mußte. Ich hatte das Gefühl, daß mein Leben vorbei ist, bevor es begonnen hat. Ich wäre am liebsten zusammen mit dem Embryo gestorben. Ich spülte etwas ins Klo, was ich nie aus dem Gedächtnis werde löschen können, was mich verfolgen wird, wo immer ich bin. Vielleicht hat mich deshalb diese Problematik nie losgelassen. So hat dieses Ereignis alles, was ich später machte, bestimmt.«
»Schrecklich. Du hast also schon früh beschlossen, Frauenärztin zu werden?«
»Ja, denn der Arztberuf war mir ohnehin bestimmt. Aber erst während des Studiums wurde das Ziel endgültig klar. Und da hatte ich ja bereits ein Kind.«
Sie hält mir das leere Glas hin, will, daß ich ihrnachschenke. Heute trinkt sie für uns beide, und ich lasse es zu.
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