Der Fluß
klingt. »Vielleicht ist es eine Krankheit. Vielleicht denke ich zuviel. Vielleicht lebe ich zuwenig. Irgend etwas muß es sein, wenn man halbe Tage am Klavier sitzt und Etüden übt, nicht wahr? Und der Gedanke an Vater und Ingeborg quält mich.«
»Kennst du die Platte von Ole Paus?« fragt Marianne Skoog.
»Wer ist Ole Paus?« sage ich.
»Ein Liedermacher. Von ihm gibt es ein Lied über den ›Alten Hai‹. Einen Landstreicher. Das hat mir zu denken gegeben. Ein Satz darin lautet: ›Sie versuchte, mich herauszuholen, und dann ging sie zugrunde‹. Verstehst du? Ja, vielleicht hat es Richard Sperring gut gemeint, als er versuchte, mich wieder ans Licht zu ziehen, mich auf einen tollen Segeltörn mitzunehmen, mich auf andere Gedanken zu bringen als nur immer die Trauer über den Verlust von Anja und Bror. Statt dessen sind wir gekentert. Und so großzügig bin ich nicht, daß ich ihm vergebe. Er war waghalsig. Unverantwortlich. Erik Holm kam ums Leben.«
»Wer war Erik Holm?«
Sie überlegt, zündet sich eine Zigarette an.
»Wir waren kein Paar, wenn es das ist, was du denkst«, sagt sie und nimmt wieder meine Hand, jetzt beinahe demonstrativ, daß es alle um uns herum sehen sollen. Mir gefällt es, wie sie sich in ihrem Tun widerspricht. Auf der Straße konnten wir nicht Hand in Hand gehen, aber hier, in der Gerüchteküche der Stadt, ist es in Ordnung.
»Was war er dann?«
Sie raucht ruhig, betrachtet mich, beurteilt mich, legt mich auf die Waagschale, wieder und wieder. Wie sehr kann sie mir vertrauen? Da entsteht ein Abstand zwischen uns. Da fühle ich mich nicht mehr alt und weise. Da bin ich nur verzweifelt.
»Er war mein Psychiater«, sagt sie endlich.
Wir trinken schweigend. Rauchen. Hängen unseren Gedanken nach. Es ist gut, so zu sitzen. Gemeinsam zu rauchen und zu trinken. Mit ihr wirkt das so selbstverständlich. Als müßte ich nie debütieren. Und ich liebe dieses Gefühl. Diese Freiheit. Daß nichts von mir verlangt wird. Daß es ganz andere Dinge gibt, als bei Selma Lynge zu studieren.
»Hast du jetzt einen anderen Psychiater?« frage ich.
»Nein, die Behandlung war beendet. Ich schäme mich nicht, dir das zu erzählen. Ich habe ihn für eine gewisse Zeit gebraucht. Er war nicht von Anfang an ein enger Freund. Deshalb konnte ich ihn als Therapeuten nehmen. Aber wir kannten beide Richard Sperring, den Urologen. Sein Angebot eines mehrtägigen Törns mit seiner Hochseeyacht war verlockend. Eine Gruppe von Ärzten, die an der Südküste entlang nach Kristiansand segelt. Erik sollte ein Auge auf mich haben, ich galt noch als sehr labil. Die ersten Tage waren schön, aber dann begann Richard Sperring seinen waghalsigen Kampf mit den Naturkräften. Das war fürchterlich.«
»Es ist leicht, übermütig zu werden«, sage ich.
Sie nickt. »Merk es dir«, sagt sie. »Es kann später einmal eine wichtige Einsicht sein.«
»Du wußtest, daß er heute hier sein würde?«
»Ja«, sagt sie. »Und ich hatte ein Bedürfnis, ihn zu sehen, das gebe ich zu. Um all das Negative, das er in meinem Leben ausmacht, bestätigt oder widerlegt zu bekommen. Und plötzlich sehe ich, daß alles nur negativ war. Daß er sich zwischen Erik und mich drängte, daß er wahrscheinlich eine dunkle Vergangenheit hat, daß er, mit seiner übertriebenen Überzeugung von sich selbst, noch eine Tragödie auslöste. Wer hätte Erik in meinem Leben werden können? Das werde ich nie wissen. Aber du bist alt genug, auszuhalten, was ich sage: Er hatte eine positive Wirkung auf mich. Vielleicht war er das, was Rebecca Frost in deinem Leben ist. Etwas Positives, Verläßliches. Etwas Nichtnegatives. Ein Mensch, der dich sieht und versteht. Ein Mensch, der es gut mit dir meint. Solche Menschen sind seltene Sammelstücke.«
Wiedersehen mit Rebecca Frost
Wir stehen in der Garderobe, als ich Rebecca Frost erblicke und den Mann in ihrem Leben, der vermutlich Christian ist.
»Rebecca!« rufe ich unwillkürlich. »Wir haben gerade von dir gesprochen.«
Sie blickt überallhin, nur nicht zu mir. Versucht, mich zu übersehen. Aber Christian ist hellwach. Ein junger, smarter Jurastudent, mit pomadisiertem, nach hinten gekämmtem schwarzen Haar. Mittelgroß. Durchtrainiert und zugleich versoffen, sieht sowohl dumm wie gefährlich aus. Ein künftiger Lebemann, denke ich plötzlich eifersüchtig, mit dem starken Wunsch, ihn von vorneherein zu verurteilen. Ein vulgärer Mann, denke ich. Eines Tages wird er mit glänzenden Pickeln um den Mund
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