Der Fluß
keine Veranlassung, ihr zu widersprechen. Kurz darauf sitzen wir etwas weiter hinten im Lokal einander gegenüber, sie auf dem Sofa, ich auf dem Stuhl. Sie hat die Situation unter Kontrolle, wirkt aber auf einmal nervös, und als sie mich anschaut, sehe ich, daß die Pupillen ungewohnt groß sind, ohne daß ich eine Ahnung habe, was das bedeuten soll. Sie bekommt die Menü- und die Weinkarte. Der Ober hat verstanden, daß nicht ich zahle. Ich bekomme ebenfalls die Karte, habe aber keinen Hunger. Marianne Skoog legt die Karte sofort beiseite, dreht sich eine Zigarette, läßt zu, daß ich ihr Feuer gebe, um dann meine Zigarette anzuzünden.
»Du kannst essen, was du willst«, sagt sie. »Und achte nicht auf den Preis. Ich habe genug Geld. Willst du Gravlachs? Steak?«
Sie hat mich beim Reden nicht angeschaut. Die Augen flackern. Sie wirkt überdreht, unnatürlich. Hat sie mir nicht erzählt, daß sie den Sonntag brauche, um sich auszuruhen, um wieder zu Kräften zu kommen? Und jetzt bestellt sie einen Chablis, den teuersten Weißwein.
»Ich sollte heute vielleicht keinen Wein trinken«, sage ich. »Nur ein Gläschen«, sagt sie zustimmend. »Um mir Gesellschaft zu leisten.«
Ich gehorche. Sie hat eine eigene Art, daß das alles zwar alsschädlich anzusehen ist, ohne aber wirklich gefährlich zu sein.
Wir einigen uns auf Steak. »Medium«, sagt sie. »Und mit viel Sauce Béarnaise zu den Pommes frites.«
»Mir dasselbe«, sage ich und merke, daß ich mich gar nicht so fremd fühle, wie ich dachte, daß ich mich in diesem Lokal, wo sie auf dem Balkon Kaffeehausmusik spielen und wo sich reiche Anwälte und moderne Bohemiens ein Stelldichein geben, wohl fühle. Zwei Tische weiter erkenne ich ein paar Lyriker wieder, die deutlich dem Rotwein zusprechen, und eine schöne dekolletierte Frau, die vielleicht die größte Lyrikerin von allen ist.
Ich merke, wie mir der Wein in den Kopf steigt.
Marianne Skoog läßt ihren Blick durchs Lokal schweifen, während sie mich politisch testet, fragt, was ich vom Vietnamkrieg halte, von der Palästinafrage, von der EWG. Eine Kanonade an Fragen. Ich antworte unsicher, will nichts meinen, was sie nicht meint, jedenfalls noch nicht, nehme Standpunkte ein, von denen ich annehme, daß sie von ihr akzeptiert werden. Intellektuell gesehen, ist sie mir überlegen. Aber ich bin auch nicht völlig ahnungslos. Mutter und Vater waren durchaus gesellschaftlich engagiert, sie brachten mir bei, Zeitungen zu lesen. Und Cathrine hat mich in all den Jahren daheim im Melumveien auf Trab gehalten. Aber es ärgert mich, daß Marianne Skoog mich einer anderen Generation zuordnet: »Was haltet ihr denn von Richard Nixon? Dann streite ich mit ihr, sage ihr, daß ich es ablehne, mit allen in einen Topf geworfen zu werden. Ihr? Ich gehöre zu keiner anderen Generation als sie. »Doch«, erwidert sie. »Das habe ich an Anja gemerkt. Sie hatte keine Ahnung, was auf der Welt geschieht.«
»Aber das betrifft Anja,« sage ich, »und nicht ihre Generation.«
Das Essen kommt. Wir reden beide voller Eifer, aber ich bineigentlich momentan nicht dazu aufgelegt, gesellschaftspolitische Fragen zu erörtern. Sie ist nicht sie selbst, denke ich. Sie hat etwas genommen. Und trotzdem bin ich von ihr erfüllt, lasse ich mich von ihren plötzlichen Einfällen begeistern, bin stolz, mit ihr im berühmten Theatercafé zu sitzen. Können die anderen Gäste sehen, daß etwas zwischen uns ist ? Sie bestellt die zweite Flasche Wein. Sie fragt mich über Filme aus, die ich nicht gesehen habe. Godard, Antonioni, Bergman. Dann schaut sie auf die Uhr.
»Um 21 Uhr läuft ›Woodstock‹«, sagt sie. »Hast du Lust, reinzugehen?«
»Klar«, sage ich. »Aber wie steht es mir dir?«
»Hör auf. Mach mich jetzt nicht älter, als ich bin.«
Sie versucht, witzig zu sein, aber in ihrem Gesicht ist etwas Trauriges, und plötzlich fällt ein Schatten auf unseren Tisch und ein fremder Mann, tadellos gekleidet im dunklen Anzug, sieht uns an. Das heißt, er schaut Marianne Skoog an.
» Du bist hier?« sagt er.
Ich spüre eine Abneigung, fast eine Art Zorn. Und ich verstehe, daß er es ist, nach dem sie den ganzen Abend Ausschau gehalten hat. Aber sie bleibt ruhig, erstaunlich ruhig. »Warum sollte ich nicht hier sein?« sagt sie.
»Ich dachte nicht, daß du dazu schon bereit bist«, sagt er. »Du mußt meinen Untermieter begrüßen«, sagt sie mit einer freundlichen Geste zu mir. »Du kennst ihn ja.«
Er blickt herunter zu mir.
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