Der Fluß
sie Anja hatte. Weil sie Bror hatte. Jetzt kommt eine Yoga-Einlage. Die Menschen strecken die Arme in die Luft. »Getting high on Yoga.« Ich sitze in einem Kinosaal und betrachte eine Gemeinschaft, und ich merke, daß ich nicht dazugehöre, verstehe auf einmal, daß ich vielleicht etwas versäumt habe, daß alle diese Stunden und Tage am Flügel meinen Horizont nicht erweitert haben. Zwischen den Menschen, die ich sehe, läuft eine offene und direkte Kommunikation. Da kommt Joe Cocker auf die Bühne. Von ihm habe ich gehört. Er singt ein Lied von den Beatles, zusammen mit The Crease: »With a little Help from My Friends«. Da fällt mir plötzlich ein, daß Rebecca rechts von mir sitzt. Wie konnte ich sie vergessen. Sie liebt die Beatles, sie liebt Joe Cocker, sie wiegt den Oberkörper hin und her, genau wie Marianne Skoog. Zwei Frauen, die den Oberkörper wiegen, und ich in der Mitte. Die eine ist eine radikale Gynäkologin. Die andere hat Beethovens op. 109 vor der vollbesetzten Aula gespielt. Was für ein grotesker Anblick für Außenstehende. Ich spüre Rebeccas Anwesenheit. Sie bezieht sich die ganze Zeit auf mich, auch wenn wir kein Wort wechseln. Sie sieht die Hand, die ich zu Marianne Skoog ausgestreckt habe, sie nimmt die geringste Veränderung in der Körpersprache zwischen uns wahr.
Aber das ist Joe Cockers großer Augenblick da oben auf der Leinwand. Jetzt wird es ernst. Diese Minuten sind bereits um die ganze Welt gegangen. Ich bewundere das Kamerateam, wie der Regisseur dem Sänger so nahe kommt, Nuancen im Auftreten der Musiker erfaßt. Das sind nicht unsere Rituale. Wir, die klassischen Musiker, haben eine äußere Hülle. Besonders die Männer. Der Frack. Das steife Verbeugen. Der Applaus. Die Zugaben. Joe Cocker steht einfach da, im T-Shirt, und wirkt völlig frei. Und währendich ihn auf der Bühne tanzen sehe, denke ich, wie weit weg doch seine Welt ist von der einer Selma Lynge. Hier, im Film, erhalte ich einen Einblick in ein Leben, das mir fremd ist, das mich aber reizt. Ein Leben, das Rebecca Frost besser versteht als ich. Und ich merke, daß ich die Frau bewundere, deren Hand ich halte, die wirklich dorthin gefahren ist, nach Woodstock, um einen Künstler zu sehen, der nicht einmal da war. Joe Cocker ist jetzt in Hochform. Er wedelt mit den Armen und singt das berühmte Lied, das sogar ich schon ein paarmal gehört habe.
Dann ist er fertig. Dann kommt der Applaus. Dann kommt der Regen. Ein unsichtbarer Mann spricht von der Bühne: »Please move away from the towers!« Plötzliche Besorgnis. Kann es bei den Verstärkern einen Kurzschluß geben? Kann die Bühnenkonstruktion zusammenstürzen? Kann ein Brand ausbrechen? Ich merke, daß Marianne Skoog jetzt besonders aufmerksam zuschaut. Was erwartet sie zu sehen? »No rain. No rain!« Die Kamera macht einen Schwenk über die Bühne.
»Please move away from the towers!«
Und da steht sie. In Nahaufnahme. Eine Frau mit nacktem Oberkörper, abgesehen von einem weißen BH.
Sie hebt die Arme. Sie winkt. Sie ist glücklich. Es regnet in Strömen. Sie tut so, als würde sie duschen.
Es ist Marianne Skoog.
»Du?« rufe ich unwillkürlich, so daß es die Menschen um uns hören.
»Ja, ich«, flüstert sie und macht sich ganz klein.
Aber sie braucht sich nicht klein zu machen. Ich bin stolz auf sie dort auf der großen Kinoleinwand. Sie reckt die Arme in die Luft. Sie ist nicht unanständig. Sie hat einen BH an. Aber in dieser Welt nackter Oberkörper wirkt das Kleidungsstück trotzdem fast unanständig. Ich werde zum bewundernden Fan. Marianne Skoog, wie eine Venus von Milo, mitten ineinem »Woodstock«-Film! Ich drehe mich zu ihr, küsse sie auf die Wange, auf die Stirn, auf den Mund.
»Ich bewundere dich so«, flüstere ich, daß nur sie es hören kann.
»Sei bitte still!« flüstert sie mit erschrockenem Gesichtsausdruck zurück.
»Aber du bist so schön!« betone ich.
Rebecca Frost kneift mich in den Arm.
»Ruhe jetzt«, mahnt sie.
Der Rest des Films bleibt für mich undeutlich. Jetzt, nach so vielen Jahren, erinnere ich mich jedenfalls nicht mehr an die einzelnen Nummern. Ich weiß nur noch, daß ich in einer Art von begeistertem Verliebtheitsnebel im Saal gesessen bin, begleitet von Ten Years After, Jefferson Airplane, Country Joe McDonald, Santana, Sly and the Family Stone und Jimi Hendrix. Ja, an Jimi Hendrix erinnere ich mich. »The Star-Spangled Banner«. Ich erinnere mich an die Unruhe in Marianne Skoogs Körper und daß ich an
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