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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Langballe an Rebeccas anderer Seite. Christian hat zwar versucht, uns auseinanderzubringen, als er merkte, wie eng aneinandergeklebt wir sitzen würden, aber Rebecca setzte es durch, zwischen mir und ihrem Verlobten zu sitzen. Damit sitze ich jetzt zwischen Marianne Skoog und Rebecca. Das streßt mich. Ich habe mit beiden etwas gehabt. Rebecca weiß das. Marianne Skoog weiß es nicht.
    Marianne Skoog nimmt meine Hand, als ahne sie, daß mich etwas Schwieriges beschäftigt. Mir ist plötzlich schwindlig. Es ist so viel geschehen an diesem Tag. Ich dachte, das sei genug für ein ganzes Leben. Aber das geht ja weiter.Vielleicht hat Rebecca recht, denke ich. Vielleicht wäre es besser, nicht hier zu sitzen. Was hat diese Situation mit dem Pakt zwischen mir und Selma Lynge zu tun? Zu allem Überfluß schaue ich mir mit Marianne Skoog einen Rockfilm an, und nicht irgendeinen, sondern »Woodstock«. Nichts würde Selma Lynge mehr in Wut versetzen. Ein Film über Schubert, Richard Strauss oder Mahler, notfalls. Und plötzlich verstehe ich, warum Marianne Skoog so unruhig ist auf ihrem Platz. Sie war ja dort! Auf dem Woodstock-Festival! Vielleicht kommt sie sogar vor in dem Film, denke ich. Vielleicht hat sie Angst vor dem, was auf der Leinwand gezeigt wird.
    Während das Licht langsam ausgeht, blicke ich mich im Saal um. Viele Jugendliche. Sie sind nicht so gekleidet, wie Rebecca und ich uns all die Jahre gekleidet haben. Sie sind in ihren äußeren Formen freier, lockerer und ungebundener, sowohl ästhetisch wie sozial. Aber bin ich nicht auf dem besten Wege, einer von ihnen zu werden? denke ich. Grenzen überschreiten, Regeln übertreten und unerwartete Situationen riskieren? Sich wie Espen Askeladd im Märchen von Zufälligkeiten leiten lassen? Immer weniger üben, obwohl ich bald debütieren soll, und alles auf eine Karte setzen? Und die Prinzessin, die ich vielleicht schon erobert habe, ist kompliziert. Sie kann plötzlich nicht auf ihren Beinen stehen. Sie hat auf einmal große Pupillen. Sie spielt Joni Mitchell statt Bach. Sie ist die Mutter meiner großen Jugendliebe, und ich habe mich in sie verknallt.

    Der Film fängt an. Ich sitze in einem dunklen Kinosaal und gehe hinein in meine Zeit, die Hippie-Zeit, in der ich lebe, ohne sie zu kennen. Eine Zeit der Sinnlichkeit, der freien Liebe, des Rausches. Zuerst die Vorbereitungen auf diesem gewöhnlichen Erdball, an der Ostküste der USA, wo einige Verrückte die wahnsinnige Idee haben, das größteund beste Rockfestival der Welt zu veranstalten. Es gelang ihnen.
    Und Marianne Skoog war dort.
    Ich sitze neben ihr und sehe, wie die Bühne aufgebaut wird, wie die Menschen herbeiströmen, zu Tausenden. Marianne hat sich jetzt beruhigt, hat aufgehört, Schokolade zu essen. Sie starrt erwartungsvoll auf die Leinwand, wird neben mir zum jungen Mädchen, eine Hippie-Radikale, offen für die Welt und all ihre Möglichkeiten, weit weg von dem strengen Milieu um Selma Lynge. Crosby, Stills & Nash, sie fangen an mit »Long Time Gone«. Der Ton ist groß und überwältigend. Der Kinosaal verwandelt sich, wird zur Bühne, auf der weltberühmte Artisten stehen, wird zur großen Wiese, auf der bekiffte Menschen herumlaufen und nur lieb sein wollen. Ja, denke ich, in diesem Projekt steckt sehr viel Großzügigkeit. Auf der Bühne steht ein Mann, der freundschaftlich zum Publikum spricht, der Ratschläge gibt, sich sorgt, erklärt, wo man was findet und wie man sich verhält. Das ist nicht die winterliche Schanzenkonkurrenz oben auf Holmenkollen. Das ist etwas viel Größeres. Ein Weltereignis. Hier sitzen nicht die Aktienspekulanten der Zukunft und wollen maximalen Gewinn. Das Woodstock-Festival wird von woanders gelenkt. Von einem inneren Ort in jedem Menschen, denke ich, bereits fasziniert von dem, was ich sehe. Es ist einfach und direkt. Aber war nicht auch Schubert einfach und direkt? Richie Havens singt »Freedom«. Canned Heat singen »A Change Is Gonna Come«. Joan Baez singt »Joe Hill« und »Swing Low Sweet Chariot«. Danach kommen The Who. Das sind Menschen, von denen ich höchstens gehört habe. Ich halte Marianne Skoogs Hand. Sie lebt sich in die Musik ein, bewegt den Körper, stampft mit den Füßen. Ich fühle mich etwas dumm, kann nicht dasselbe machen, das würde nicht passen. Diese Musik, das bin nicht ich, das ist Musik von der anderen Seite des Flusses,wie Selma Lynge sagen würde. Zwei verschiedene Welten. Ich bin in der einen. Marianne Skoog ist in beiden. Weil

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