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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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erschrecken kann. Hat mich jemand gehört? Nein. Ich liege still in Anjas Bett. Kein Laut im Haus. Ich schaue auf die Uhr. Es ist nach neun. Marianne Skoog ist also aufgestanden und zur Arbeit gegangen, ohne daß ich etwas gehört habe. Ich setze mich im Bett auf. Ich bin es nicht gewöhnt, so tief zu schlafen, so scheußlich zu träumen.
    Allein im Elvefaret. Sie wird also weitermachen wie bisher, denke ich. Sie will ihr Alleinsein. Das einzige, was sich verändert hat, ist, daß wir miteinander schlafen, daß sie hier bei mir übernachtet, wenn sie will. Die Zukunft wird Klarheit bringen.

    Jetzt muß ich wirklich arbeiten, hart arbeiten. Mich befällt eine Art Panik bei dem Gedanken, daß es nur noch wenige Tage sind bis zum Unterricht bei Selma Lynge. Wie soll ich nach all dem, was geschehen ist, in der Lage sein, mich zu konzentrieren? Welche neuen musikalischen Landschaften habe ich erobert? Durchaus wichtige. Joni Mitchell. Donovan. Nick Drake. Ole Paus. Ich habe den »Woodstock«-Film gesehen. Werde ich das jemals Selma Lynge erzählen können, oder muß ich das als Peinlichkeit verstecken, als eines meiner vielen neuen Laster? Beim Aufstehen, Duschen und Frühstücken ist ein Gefühl des Jubels in mir. Endlich geschieht etwas, endlich zeigt die Trauer Risse und Löcher,zerstört den Panzer, der mich seit Anjas Tod umgab. Die Trauerzelle ist groß, fast komfortabel. Man fühlt sich wohl darin. Wenn ich daran denke, was dieses Wochenende mit sich brachte, betrachte ich uns sozusagen von außen, Marianne Skoog und mich, wie wir uns, auf verschiedene Weise, anstrengen, die Trauerzelle zu verlassen. Die Trauerzelle ist wie das Erlengebüsch. Man kann darin sitzen, Tag für Tag, und das Leben als etwas Uninteressantes verstreichen lassen. Nur das Nächstliegende, der aktuelle Gedanke, ist interessant. Die Trauerzelle bietet einen verläßlichen Rahmen, egal ob die Zelle mit freundlichen Gegenständen und Erinnerungen möbliert ist oder grau und abweisend ist wie ein Verlies. Marianne Skoog hat in dem Verlies ihr Dasein gefristet. Wird sie meine Ansicht über die Trauerzelle teilen können? In der Trauerzelle haben wir, jeder auf seine Weise, unsere Verachtung des Lebens kultiviert. Eine Verachtung, die uns nicht daran hindert, uns nach ebendiesem Leben zu sehnen, auch wenn die Trauer es schwerer gemacht hat, das zu genießen, was das Leben zu bieten hat.
    Ich quäle mich mit solchen Gedanken, während ich mich auf einen weiteren langen Tag an Anjas Steinway vorbereite. Wird es mir gelingen, mit meinem Programm wie geplant voranzukommen, wenn in meinem Kopf nur Chaos und Verwirrung herrschen? Selma Lynge will mich herausholen aus der Trauerzelle. Die Musik ist die Medizin. Nun denn, ich fange wie gewöhnlich mit den Chopin-Etüden an. Wie viele Male habe ich sie jetzt gespielt? Dreihundertfünfzigmal? Fünftausendmal? Wie oft hat der rechte Ringfinger bei den chromatischen Läufen in der Etüde Nr. 2 versagt. Wie oft hatte ich schon Muskelschmerzen bei den None-Griffen in der C-Dur-Etüde? Ich starre hinaus zum Tannenwald und kann den unangenehmen Traum nicht vergessen, bei dem ich die Hand in Bror Skoogs zerschossenen Kopf steckte. Ebensowenig kann ich Marianne Skoog vergessen.Das Telefon klingelt um halb zwölf.
    »Hei«, sagt sie, »Ich bin es. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir ergangen ist.«
    »Du fehlst mir«, sage ich. »Du fehlst mir mehr, als mir jemals ein Mensch gefehlt hat.«
    Sie lacht. »Sprich weiter«, sagt sie. »Ich mag es, wenn du so etwas sagst. Wie, glaubst du wohl, geht es mir ?«
    »Wie geht es dir?«
    »Ich versuche mich zu konzentrieren. Zwei Patienten mit schlechten Prognosen am selben Tag. Sie brauchen viel Zuspruch. Ich merke, daß ich disziplinierter sein muß.«
    »Schieb das nicht auf mich«, sage ich. »Du bist es, die spätnachts schlafen geht.«
    »Damit du deinen Schlaf bekommst, mein Junge. Glaubst du nicht, ich habe ein schlechtes Gewissen? Glaubst du nicht, ich weiß, daß mich Selma Lynge hassen wird? Es war nicht viel, was sie Anja an Zerstreuung erlaubte.«
    »Ich bin eigentlich alt genug, um die Verantwortung für mein Handeln und Tun zu übernehmen.«
    »Wie schön«, lacht sie. »Übst du jetzt?«
    »Ja.«
    »Was übst du?«
    »Chopin.«
    »Du hast schlimm geträumt heute nacht, weißt du das? Du hast mehrmals gestöhnt. Hast du von Anja geträumt?«
    »Nein, von Bror Skoog.«
    Ich höre, daß sie still wird. »War er bedrohlich für dich?« »Nein,

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