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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Seltsamerweise meine ich, daß ich Marianne Skoog das schulde. Sie fand ihn. Sie wußte, daß die Tochter todkrank im oberen Stock liegt. Wieviel kann ein Mensch aushalten? Ich gehe hinunter in den Keller und weiß sofort, welche Tür es ist. Ich öffne sie und gehe hinein. Mache Licht an. Da steht die Kühltruhe. Da ist ein Stuhl. Mehr ist nicht da, nur ein paar alte Koffer in der Ecke. Das ist die Todeszelle. Aber es ist auch die Trauerzelle. Hier wurde die Frucht reif, wurde die Einsicht zerdrückt. Hier pustete er sein Gehirn weg, schoß es an eine roh verputzte Mauer.
    Ich sehe noch Blutflecke ganz oben an der Wand und an der Decke. Wer hat saubergemacht? Die Polizei? Marianne Skoog selbst? Sie reichte jedenfalls nicht ganz hinauf.

    Ich stehe beinahe andächtig da. Das ist kein Kellerraum. Das ist eine Endstation. Hier muß sich Bror Skoog gefühlt haben wie Scott, als er den Südpol erreichte und begriff, daß die Schlacht verloren war: »Dies ist ein fürchterlicher Ort.« Ich denke an das, was Marianne Skoog sagte undworan sie mit solcher Heftigkeit glaubt: Die Toten gibt es nicht. Sie sind nicht mehr da.
    Ich glaube nicht, daß das wahr ist.
    Die Toten gab es im Traum.
    Es gibt ihn also, und sei es in der Erinnerung der noch Existierenden.
    Das macht alles nicht weniger erschreckend.
    Bin jetzt ich dafür verantwortlich, ihn am Leben zu erhalten?
Das Herz ist ein einsamer Jäger
    Die Tage finden ihr Muster. Marianne Skoog möchte die zwischen uns getroffene Vereinbarung nicht brechen. Sie will nicht, daß wir ein gewöhnliches Paar werden, daß ich bei ihr einziehe, daß wir ab jetzt alle Mahlzeiten gemeinsam einnehmen oder andere Dinge, die man erwarten könnte, gemeinsam machen. Sie sagt es mir noch mal.
    »Ich bin nicht bereit, das Muster zu verändern, Aksel, denn das Muster ist gerade jetzt meine Sicherheit. Akzeptierst du das?«
    »Ja«, sage ich, denn mir bleibt nichts anderes übrig.
    Und das Muster besteht darin, daß ich allein erwache, allein frühstücke, die ganze Zeit, während sie auf der Arbeit ist, allein im Haus bin. Am Spätnachmittag durchbricht sie das Muster, weil sie es nicht schafft, konsequent zu sein. Aber wir essen nicht jeden Tag zusammen. Abends möchte sie, daß jeder einige Stunden für sich ist, wenn wir nicht füreinander Musik spielen und Wein trinken, über Politik reden, über den Mittleren Osten und alles, was momentan in der Welt passiert. Ich schätze es, von ihr aus der Musik in die Realität geholt zu werden, um dann wieder gemeinsam in die Musik zurückzukehren. Wir trinken beide zuviel Wein. Sie gießt Benzin ins Feuer. Mit ihrem Ausspruch, wir seiennicht füreinander geschaffen, erregt sie mich um so mehr. Was da abläuft, hat etwas Ungesetzliches, etwas Verdecktes und Verbotenes. Das wirkt verführerisch auf mich, macht sie in meinen Augen noch schöner und begehrenswerter. Was denken wohl die Leute von uns? Die meisten wissen, daß uns die gemeinsame Trauer verbindet. Bedauern sie uns? Sind wir vom Unglück betroffen, das zu einer Wunde zusammengewachsen ist, woraus sich eine traurige, zurückgezogene, resignierte Beziehung gebildet hat?
    Sie sehen uns nicht, denke ich. Wir zeigen uns fast nicht in der Öffentlichkeit. Sie sehen uns nicht, wenn wir füreinander Musik spielen, wenn wir Joni Mitchell oder Schubert, Donovan oder Ravel hören, wenn wir uns gegenseitig necken. Ich habe aufgehört, nach ihrer Vergangenheit zu fragen und zu bohren. Das stabilisiert sie. Ich befürchte jetzt keinen neuen Angstanfall mehr, obwohl sie labil ist, obwohl sie sich in ihren Gedanken verliert, so weit weg ist, daß sie nicht hört, was ich sage, auch wenn ich direkt neben ihr sitze. Und seit ich nicht mehr frage und bohre, kommen die Vertraulichkeiten am laufenden Band, in ihrem eigenen Tempo.

    Eines Tages sagt sie unvermittelt:
    »Hast du von Carson McCullers ›The Heart Is a Lonely Hunter‹ gelesen?«
    »Nein«, sage ich. »›Das Herz ist ein einsamer Jäger‹? Ich habe davon gehört. Ein schöner Titel.«
    »Sie starb 1967, mit fünfzig Jahren, war nach einigen Schlaganfällen, die sie schon in ihrer Jugend hatte, neunzehn Jahre halbseitig gelähmt. Eigentlich hieß sie Lula Carson Smith. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre, als das Buch herauskam. Vielleicht war sie in deinem Alter, als sie zu schreiben begann. Vielleicht ist sie der Grund, warum ich junge Leute wie dich nie unterschätze, mein Lieber, wiesehr ich dich auch wegen deines bisher noch so kurzen Lebens

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