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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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verständnisvoll.«
    »Um so besser. Außerdem: Denk daran, er existiert nicht mehr.«
    »Warum rede ich dann im Traum mit ihm?«
    »Weil du wegen irgend etwas ein schlechtes Gewissen hast. Weil du glaubst, daß er sich noch irgendwo aufhält, aber das tut er nicht.«
    Es ist, als würde sie mit sich selbst sprechen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
    »Habe ich etwas Falsches gesagt?« sagt sie. »Du bist so still.«
    »Nein«, sage ich.
    »Gut. Außerdem: Warte heute abend nicht, bis ich heimkomme. Ich habe eine Menge um die Ohren, Dinge, die erledigt werden müssen. Okay so? Bleibst du mein flinker, fleißiger, selbständiger Untermieter?«
    »Ja«, sage ich. »Ich habe selbst genug zu tun.«
    »Hast du? Was treibst du, das wichtiger ist als ich? Vergiß mich nicht völlig.«
    »Ist das ein Witz? Ich vergesse dich niemals.«

    Aber ich merke, daß ich unruhig werde. Dieses unschuldige Flirten. Als würde ich ihr nicht trauen. Ihre Stärke, die sie mir zu zeigen versucht. An die sie selbst nicht glaubt.
    Wir begeben uns auf ein gefährliches Terrain, denke ich. Wir provozieren Bereiche in uns, Gefühlsbereiche. Daraus können Minenfelder werden, für die ich keine Verantwortung übernehmen kann. Sie ist nicht passiv in ihrer Trauerzelle. Sie fegt darin herum, will eine andere Zelle daraus machen. Eine Zelle voller Leben. Erik Holm war das Leben für sie. War das Neue, das sie mit Hoffung erfüllte. Dann starb er. Übrig blieb nur ich. Und warum nahm sie mich? denke ich. Weil wir uns beide in der gleichen Trauerzelle aufhalten. Es gibt nicht viele, die um Anja trauern. Bald sind es nur noch ich und ihre Mutter.

    Es ist ihr Vater, an den ich denke. Anjas Vater. Bror Skoog. Ich kriege den unangenehmen Traum nicht aus dem Kopf. Ich versuche, weiter zu üben, wechsle zur siebten Sonate von Prokofjew, klopfe die Oktavläufe in der Eröffnung in den Flügel. Aber da bleibe ich stecken. Wieder undwieder die Oktaven. Ich stehe auf, verwirrt über mich, über alles, was mich durcheinanderbringt. Es gibt keinen Ausweg. Ich muß in die Trauerzelle, muß tief hinein. In die Selbstmordzelle. Zur Richtstätte. Wo aus Bror Skoog zwei Personen gleichzeitig werden, Opfer und Henker. Mutter sagte einmal, Selbstmord sei feige. Was ist feige an einem Selbstmord, denke ich und versuche, mich in Bror Skoog zu versetzen, an seinem letzten Tag, als er begriff, daß Anja Skoog sterben würde, als er vor ihr an die Reihe kommen wollte. Heißt Selbstmord nicht ebensosehr Verantwortung übernehmen wie sich der Verantwortung entziehen? Heißt Selbstmord nicht, sich vor Gott völlig entblößen? Als Geschöpf Gottes zugeben: Ich habe nicht mehr die Kraft, Mensch zu sein. Vielleicht hat auch Mutter eine Art Selbstmord begangen, als sie sich damals von der Strömung mitreißen ließ? Vielleicht hatte sie mehr oder minder bewußt das Gefühl, daß es jetzt genug sein muß, daß ihr Leben aufgezehrt war, daß bald nur noch sie und ihr Ehemann daheim sein würden, daß sie nicht loskommen würde von der Erniedrigung, die darin bestand, die eigenen Chancen vertan zu haben. Daß alles egal war. Sie hatte Wein getrunken. Vielleicht befand sie sich in einem Stadium des Rausches, das sie übermütig machte. In dem sie dachte, daß es befreiend sein könnte, sich den Kopf an den Steinen im Wasserfall zu zerschmettern. Und so die Natur selbst zum Henker zu machen.
    Bei Bror Skoog war es anders. Er war der Henker. Er war das Opfer. Mit einem Schuß wollte er seine Welt vernichten. Die tiefe Liebe zu Anja. Die oberflächliche Liebe zu all seinen Designergegenständen. Die leidenschaftliche Liebe zu seiner Frau. Alles zusammen weg in einer Sekunde! Nur der eine Gedanke: Nie mehr Bror Skoog.
    Welche Trauer machte es ihm unmöglich, länger zu leben? Ich denke an Marianne Skoog, die darüber nicht redenkann, die auf dem Weg umkippt, die getragen werden muß wie ein Sack Kartoffeln, wie ein wundgeschossenes Wild. Durch den finsteren Wald, vorbei am Geknalle der letzten Scharfschützen.

    Ich öffne die Tür zum Keller, mache das Licht an und gehe die Kellertreppe hinunter. Es riecht nach Schimmel und alten Äpfeln. Es riecht nach Røa. Es riecht nach Unschuld. Es riecht nach Leiche.
    Warum muß ich hier runtergehen? denke ich. Warum kann ich diesen Raum nicht einfach übersehen und in meinem Leben weitergehen? Warum muß ich die Verzweiflung dieses Hauses erforschen und gleichzeitig versuchen, seine Freude wiederzuentdecken?
    Aber ich kann es nicht lassen.

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