Der Fluß
necke. Wir neigen dazu, uns wie Schablonen zu sehen. Ich denke dabei sowohl an Anja wie an Bror. Wie wurden sie von ihrer Umwelt wahrgenommen? Wie haben sie sich selbst wahrgenommen? Glaubst du denn, Anja war im tiefsten Herzen die begabte, problemlose Siegerin, für die sie allgemein gehalten wurde, bis sie zu sehr abmagerte und das Fiasko passierte? Glaubst du denn, Bror sah sich selbst als den erfolgreichen Gehirnchirurgen, den kontrollierten Papa von Anja mit einem genau ausgeklügelten, pädagogischen Konzept? Du mußt den Roman lesen, Aksel. Und du mußt dir die Verfilmung anschauen, mit Alan Arkin, obwohl sie ganz anders ist als das Buch. Ich denke so oft an sie. Sie war einer der Gründe, warum ich im vorigen Jahr in die USA geflogen bin. Ich hatte nicht nur vor, Joni Mitchell zu hören, ich wollte auch Carson McCullers’ Grab besuchen, aber dazu reichte die Zeit nicht mehr. Sie wollte Konzertpianistin werden, sollte eigentlich auf dem berühmten Juilliard-Konservatorium Musik studieren, was Bror insgeheim auch mit Anja vorhatte. Da war sie siebzehn Jahre alt. So alt wie du vergangenes Jahr. Sie hatte eine glühende Begeisterung für Musik, und sie hatte schon als Sechzehnjährige ein Schauspiel mit drei Akten geschrieben. Aber dann verlor sie einige Tage nach ihrer Ankunft in New York ihr Schulgeld. Die Dinge liefen nicht so, wie sie wollte. Nun wurde sie statt dessen Schriftstellerin. Sie gehört zu denen, die früh erwachsen werden, wie du auch. Und das ist eine gefährliche Diagnose, mein Junge.«
»Warum gefährlich?«
»Ich spreche schließlich aus eigener Erfahrung. Ich mußte erwachsen werden, als ich plötzlich achtzehnjährig mit Anja dasaß und einer Ehe, auf die ich nicht vorbereitet war. Merkwürdigerweise gibt es in solchen Situationen so wenige Helfer. McCullers’ Helfer waren so berühmte Leutewie Benjamin Britten, W. H. Auden, Tennessee Williams und Truman Capote. Sie war außerdem bisexuell, und ihr Ehemann, Reeves McCullers, war Schriftsteller und Soldat.«
Sie hat sich eine Zigarette angezündet. Sie hat den Wein geöffnet. Gemeinsam rauchen und trinken wir. Und ich liebe es, wenn sie so ist, wenn sie mir etwas erzählt, ohne mich zu belehren. Wenn ich mit eigenen Gedanken kommen kann, seien sie sinnlos oder vernünftig.
»Hast du gewußt, daß Anja mit meiner Schwester Cathrine ein Verhältnis hatte?« sage ich.
»Das habe ich nicht gewußt«, sagt Marianne Skoog überrascht und mustert mich, will sehen, ob ich die Wahrheit sage.
»Woher weißt du das?«
»Auf dem Fest nach Rebecca Frosts Debüt sah ich sie in einer … intimen Situation, um es vorsichtig auszudrücken.« »Einer … intimen Situation?« Sie schaut mich fragend an. Dann versteht sie endlich, daß mich das beschäftigt und ich darüber reden möchte. »Das muß schlimm gewesen sein für dich«, sagt sie mitfühlend. »Das war zu der Zeit, als du sie mit deiner Liebe überschüttet hast?«
»Es erschien so unwirklich. Sogar jetzt fällt es schwer, sich vorzustellen, daß es passiert ist. Daß Cathrine ans andere Ende des Erdballs gereist ist, zeigt ein wenig, wie ernst das auch für sie war.«
Marianne Skoog denkt nach.
»Vielleicht habe ich Anja den Anreiz dazu gegeben«, sagt sie.
»Wie das?«
»Sie wußte, daß ich ein Verhältnis mit einer Frau hatte, da war sie vierzehn Jahre. Das wurde zu einem der wenigen Geheimnisse, die wir zusammen hatten, mit Bror hatte sie viel mehr. Sie beobachtete einmal, wie ich diese Frau im Garten küßte. Bror war nicht zu Hause, und Bror und ich hatteneinen extremen Arbeitsdruck. Als ich merkte, was sie gesehen hatte, flehte ich sie an, Bror nichts zu sagen, weil ich wußte, daß ihn das am Boden zerstören würde. Sie versprach mir, nichts über das zu erzählen, was sie gesehen hatte.«
So treiben wir einander weiter, denke ich. So fördert einer beim andern neue Bekenntnisse zutage. Jetzt weiß sie etwas, was sie von Anja nicht wußte. Jetzt weiß ich etwas, was ich nicht von Marianne Skoog wußte.
Ich habe sie unterbrochen. Aber sind es nicht die Unterbrechungen, über die wir reden wollen? Sie denkt an Anja. Ein weiteres Teil hat in einem Puzzle, das nie fertig werden wird, seinen Platz gefunden.
»Carson McCullers versuchte, sich das Leben zu nehmen«, sagt sie ruhig und dreht sich dabei eine neue Zigarette. »Ich weiß keine Einzelheiten. Zuerst trennte sie sich von ihrem Mann, das war ein Jahr nach Erscheinen von ›The Heart is a Lonely Hunter‹, das 1940
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