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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Verzweiflung. Für den taubstummen Singer sind es die kleinen Ereignisse, die zur Tragödie werden, die dazu führen, daß der geistig zurückgebliebene Freund, um den er sich immer gekümmert hat,in der Irrenanstalt landet. Wo er stirbt. Und was geschieht mit Singer? Er, der für alle diese Menschen, die im Buch vorkommen, das Bindeglied war, kann den Verlust des Freundes nicht verwinden. Er nimmt sich zur Überraschung aller das Leben. Für ihn, der stets da war, der zuhörte, der zu verstehen suchte, obwohl er taubstumm war, wird das Leben unerträglich. Keiner der anderen hätte das voraussagen können. Sie brauchten ihn alle, jeder auf seine Weise. Aber keiner sah, wer er war.«
    »Was willst du mir damit erzählen?« sage ich.
    »Etwas über Bror und Anja«, antwortet sie.

    An einem anderen Abend sagt sie: »Eigentlich habe ich Menschen verachtet, die eine neue Beziehung eingehen, solange die Trauer noch frisch ist. Daß ich es trotzdem wage, mit dir so zu leben, wie ich es tue, hängt damit zusammen, daß du selbst ein Trauernder bist. Außerdem habe ich das Selbstmitleid in allem, was ich in den letzten Monaten machte, gefürchtet.«
    »Aber besteht nicht die Gefahr, daß du versuchst, unangreifbar zu erscheinen? Oder vielleicht vor etwas davonläufst?« »Nein, mein Junge. Denn du bringst mich zum Nachdenken. Darum geht es. Und ich brauche die Erinnerung, auch wenn ich noch nicht die Kraft habe, dir alles zu erzählen. Allein durch deine Anwesenheit bringst du mich dazu, daß ich mich frage: ›Hätte ich verhindern können, daß Bror und Anja starben?‹ In der ersten Zeit nach ihrem Verschwinden dachte ich, auch ich sei unsichtbar geworden. Bis zu dem Tag, an dem Erik Holm starb, lebte ich in einer Welt, in der ich mir vorstellte, die beiden vielleicht wiederzubekommen. Ich habe dir erzählt, daß ich das nun nicht mehr glaube. Sie sind sehr tot in meinem Denken. Was die Trauer ja nicht leichter macht. Aber es nimmt mir vielleicht etwas von der Scham, daß ich mit dir schlafe.«
    »Empfindest du wirklich Scham?« sage ich.
    »Nicht wegen meiner Lust, denn die Trauer existiert ja, auch wenn wir miteinander schlafen.«
    »Ist das der Grund, warum du weinst? Und die Augen zusammenkneifst?«
    »Ja, vielleicht. Du machst mich glücklich, Aksel. Ich habe dir ja erzählt, wie schwer es Bror und ich viele Jahre miteinander hatten. Das, was ich mit dir erlebe, habe ich nie mit Bror erlebt. Aber darf ich das denn? Erlaubt mir die Trauer, es zu tun? Und dann ist da noch Anja. Als würden die beiden in kurzen Momenten wieder lebendig. Als würde ich sie beide betrügen. Aber sie sind ja tot. Ganz tot. Da ist nichts zu betrügen! Und in gewisser Weise ist dieser Gedanke noch schrecklicher.«

    So sitzen wir und reden an manchen Abenden. Sie erzählt mir Dinge, die ihr wichtig sind. Die mir wichtig sind. Die bewirken, daß wir einander besser verstehen. Wir reden nicht über Gott. Wir gehen nicht zur Kirche. Wir sind weit weg von den offiziellen Einrichtungen des Trostes. Wir trinken, rauchen, hören Musik. So sieht unsere Trauer aus.
    Danach geht oft jeder in sein Zimmer.
    In der Nacht kommt sie unter meine Decke geschlüpft, vorsichtig, um mich nicht zu wecken.
    Ich bin jedesmal hellwach.
Selma Lynges Lasso
    Der Tag für Selma Lynge ist wieder da. Allzuviel ist seit dem letzten Mal geschehen. Ich weiß nicht, wie ich spiele, ob sie den Fortschritt, den ich trotz allem einsam an Anjas Flügel gemacht habe, akzeptiert. Dieses Risiko muß ich eingehen, denke ich. Bis zum Debüt habe ich immer noch über acht Monate.
    Die Nacht davor kommt Marianne Skoog nicht zu mir.
    Ich erwache mit einem unangenehmen Gefühl. Ein Stechen tief im Herzen. Draußen scheint hell die Sonne.

    Als wir uns am Morgen begegnen, nachdem ich allein im Bett gelegen und mich herumgewälzt habe, sagt sie, daß sie sich von mir ferngehalten hat, damit ich gerade in dieser Nacht Ruhe vor ihr habe, damit ich mich auf das konzentriere, was am wichtigsten ist.
    Ich versuche ihr klarzumachen, daß sie am wichtigsten ist. Das will sie nicht hören. Sie hat sich heute für die harte Linie entschieden, sicher als Versuch, mir zu helfen, die erforderliche Stärke zu erlangen.
    »Schluß jetzt, mein Junge«, sagt sie, die Arme um meinen Nacken und die grünen Augen direkt vor mir. »Jetzt mußt du dir darüber klar werden, was Sache ist, verstehst du? Wenn du weiter deine Rechnungen bezahlen und allmählich mir gleichwertig werden willst, als selbständiger

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