Der Fluß
herauskam. Vier Jahre später heiratete sie ihn wieder. Während einer Depression drei Jahre später wollte sie Schluß machen. Sie überlebte. Fünf Jahre später, sie wohnten in einem Hotel in Paris, versuchte der Ehemann sie zu überreden, sich mit ihm gemeinsam das Leben zu nehmen, aber sie floh vor ihm. Da setzte Reeves McCullers mit einer Überdosis Schlaftabletten seinem Leben ein Ende.«
»Nicht gut«, sage ich.
»Nein, und am schlimmsten ist, daß sich ein Mensch, der eine so tiefe Einsicht in die menschliche Seele und das menschliche Herz hat, umbringen will. Es ist mir einfach ein Rätsel, daß Menschen mit einer solchen Sensibilität, die weit über meine hinausgeht, nicht imstande sind, ihre Einsicht in Lebensfreude zu verwandeln. Virginia Woolf nahm sich das Leben, Hart Crane nahm sich das Leben. Koestler mit Frau, van Gogh, Hemingway. Ganz zu schweigen vonall denen, die geisteskrank wurden, die versuchten , sich das Leben zu nehmen, aber scheiterten. Lauert irgendwo am Grunde eines jeden Lebens das Grauen? Sind wir dazu verurteilt, als Überlebende zu leben, die verzweifelt im Meer mit den Armen fuchteln, um nicht zu ertrinken?«
Ich merke, daß sie sich aufregt. Daß es gefährlich werden kann.
»Du wolltest doch eigentlich von dem Roman erzählen, oder? Wovon handelt er denn?«
»Es ist immer schwer, zu erklären, wovon ein Carson-Mc-Cullers-Buch handelt«, sagt sie und ist jetzt ruhiger. »Dieses Buch handelt von einigen Menschen in einer kleinen Stadt in den Südstaaten. Es beginnt mit zwei taubstummen Männern, die jeden Morgen Arm in Arm die Straße hinunter zu ihrem Arbeitsplatz gehen.« Ich sehe, wie Marianne Skoog sich jetzt für den Inhalt begeistert, der ihr plötzlich lebendig vor Augen steht. »Der eine ist ein dicker, verträumter Grieche und heißt Spiros Antonapoulos, und er arbeitet in dem Obst- und Süßwarenladen seines Vetters. Sein Freund ist ebenfalls taubstumm, aber mager. Er heißt John Singer und arbeitet als Graveur bei einem Goldschmied. Sie leben in einer Gesellschaft einsamer Menschen. Dazu gehören ein junges Mädchen, das Musik liebt, ein schwarzer Arzt, ein junger, gutherziger Barkeeper und ein rebellischer Kommunist. Einige von ihnen sind völlig sprachlos, wie die zwei Taubstummen auch. Andere sind verdorben, haben ihr Leben mit Sex und Alkohol zerstört, was uns auch passieren wird, wenn wir so weitermachen, Aksel. Nein, das ist kein Spaß. Wir wurden zu früh erwachsen. Aber jetzt hör zu. McCullers beschreibt eine ganz kleine Gesellschaft, und wie sie über schwarze Menschen schreibt, das hat noch kein Weißer vorher getan. Aber für mich dreht es sich in dem Buch um John Singer, den taubstummen, hilfsbereiten Mann. Er kümmert sich Tag für Tag um seinen Freund,den dicken Griechen, weil der dicke Grieche nicht so klug im Kopf ist, wie das von der Gesellschaft erwartet wird. Gleichzeitig wird Singer gezwungen, sich die Geschichten aller anderen anzuhören. Was sie zu erzählen haben, ist in ihren Augen viel wichtiger. Eigentlich ist es eine Geschichte über den Mangel an Empathie bei den Mitmenschen: Nicht beachtet zu werden, was das bei einem Menschen auslösen kann! Und es geht auch um Mick, das junge Mädchen, das ohne Singer nicht zurechtkommt.«
Marianne Skoog redet sich warm über eine Geschichte, die ihr wichtig ist. Ich sehe ihre feinen Fältchen, die Trauerspuren, wie sie dazu einmal gesagt hat. Tränen glänzen in ihren Augen. Mir fällt ein, daß ich Anja nie weinen sah. Mir fällt ein, wie hilflos Selma Lynge wirkte, als sie weinte. So viele Arten von Tränen. Dieses Weinen ist still, ruhig, fast gut. Große Tränen, die sachte über ihre Wangen rollen, während das Buch in ihr lebendig wird, die Geschichte von dem taubstummen Mann, von Singer, der sich um seinen geistig zurückgebliebenen Freund kümmert.
»Nennt ihr Musikleute das nicht einen Kontrapunkt? Wenn sich eine selbständige Stimme, die trotzdem auf andere bezogen ist, zu einer übergeordneten Ganzheit verbindet, eine größere Dimension als die, die die einzelne Stimme allein bewältigen könnte. Das konnte Bach, nicht wahr? Und das konnte Carson McCullers.«
Sie denkt nach, so als wolle sie sich selbst korrigieren. Aber dann fährt sie fort. »Es braucht so wenig, um ein Leben kippen zu lassen, Aksel. Das haben wir doch beide gelernt, nicht wahr? Der Sonntag, an dem deine Mutter im Wasserfall ertrank, begann als ganz gewöhnlicher Tag, nicht wahr? Und endete mit Schock und
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