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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Mensch mit eigenem Einkommen, mußt du das Konzert im Juni nächsten Jahres durchziehen. Daß du dich auf eine alternde Frau mit labilem Nervenkostüm, großer Trauer und verirrtem Sexleben eingelassen hast, ist keine Entschuldigung. Diese Frau besitzt trotz allem einen guten Flügel. Auf dem hast du, so vermute ich, jeden Tag, seitdem du hergekommen bist, geübt?«
    »Ja«, nicke ich. »Jedenfalls fast.«
    »Und bist du etwa nicht begabt? Ich meine mich zu erinnern, daß Anja dich als begabt bezeichnete?«
    »Ich strenge mich an, so gut ich kann«, sage ich lachend und vergrabe meine Nase in ihrer Halsgrube. Aber sie will kein Geschmuse so früh am Morgen. Außerdem hat sie jetzt keine Zeit, sagt sie, die Straßenbahn wartet nicht.
    »Frag mich, was ich von Selma Lynge halte«, sagt sie auf dem Weg zur Haustür.
    »Was hältst du von Selma Lynge?«
    »Ich glaube, sie macht etwas mit Menschen, hat eine Botschaft, auf die sich zu hören lohnt. Du solltest im Moment mehr auf sie hören als auf mich. Das meine ich ernst. Sie sieht dich klar und deutlich, wie sie auch Anja klar gesehen hat.«
    »Und wenn ich erwiderte, daß es mir lieber wäre, du würdest mich klar und deutlich sehen?«
    »Dann antworte ich, daß du ein Dummkopf bist. Daß es dir nicht guttut, hier zu wohnen. Daß du auf der Stelle ausziehen mußt. Selma Lynge verfügt über Wissen und Können, Aksel. Wissen ist wichtig. Ich habe Medizin studiert, als Anja klein war. Das war hart. Knallhart. Du hast ebenfalls eine harte Zeit vor dir. Eine Ausbildung solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen. Bald bist du genauso alt wie Carson McCullers, als sie ›The Heart is a Lonely Hunter‹ publiziert hat. Vergiß das nicht. Du hast viel weniger Zeit, als du glaubst. Der Weg von jung und vielversprechend zu alt und uninteressant ist in allen Berufen kurz. Du solltest dich nicht von mir ablenken lassen, verstehst du? Das ist der Grund, warum ich nicht jedesmal komme und mich in der Nacht zu dir lege.«
    »Was, glaubst du, denkt sie über uns?«
    Marianne Skoog steht schon draußen, dreht sich aber noch mal schnell um.
    »Hat das etwas mit der Sache zu tun?«
    Ich werde unsicher, weil sie mich so intensiv ansieht.
    »Sie will, daß ich ständig die volle Kontrolle habe. Am liebsten hätte sie wohl, ich würde allein wohnen.«
    »Wenn du das meinst, dann tu es.«
    »Nein, natürlich nicht. Ich versuche nur zu sagen, daß ich dich am meisten brauche.«
    »Ich brauche dich auch, mein Junge. Und jetzt hör auf, zu grübeln. Es wird schon gutgehen. Toi, toi, toi. Und grüße Selma Lynge von mir. Sie hat trotz allem versucht, das Bestefür Anja zu tun. Und sei dir bewußt, was das Wichtigste ist: Sie besitzt dich nicht.«

    Marianne Skoog ist gegangen. Ich stehe in dem leeren Haus, vermisse sie bereits. Warum habe ich ihr noch nicht von dem schwachsinnigen Auftritt letztesmal bei Selma Lynge erzählt? Warum habe ich nichts von den Schlägen mit dem Lineal erzählt, von der Schelte, von dem Blut und dem Erbrochenen? Warum habe ich ihr nichts von ihrem Weinen erzählt? Ich schaue auf die Uhr, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich werde heute über den Fluß gehen, der kürzeste Weg, Luftlinie. Der Gedanke an die Straßenbahn ist mir unerträglich. Es hat seit Tagen nicht geregnet, und der Wasserstand im Fluß ist niedrig. Ich kann von Stein zu Stein springen, wenn es nicht zu glatt ist.
    Ich klemme die Noten unter den Arm, nehme den Steig hinunter zum Erlengebüsch, habe genügend Zeit, mich ein bißchen zwischen die Bäume zu setzen, um über das Leben nachzudenken und mich zu fürchten vor dem Wiedersehen mit Selma Lynge. Sie glaubt, mich völlig in der Hand zu haben, aber ich habe zwischen ihren Fingern ein Schlupfloch gefunden und bin hinaus ins Freie entwischt.

    Im Erlengebüsch ist es herbstlich kühl, und das ist nicht gut für meine Klavierfinger. Ich habe mir noch nicht angewöhnt, Handschuhe zu tragen. Herrgott, denke ich. Was muß ich bloß für ein Vorsichtigkeitsapostel sein. Ich merke ohnehin, daß ich nicht länger im Erlengebüsch sitzen mag. Es wird zu einem Ort, wo ich Anja nachspionierte, wo ich meinen Gefühlen nachspionierte, wo ich mit der Trauer über den Verlust der Mutter flirten konnte. Marianne Skoog macht derartige Gedankenspinnereien nicht mit. Sie will, daß ich handle. Sie will, daß ich mich erwachsen benehme. Im Erlengebüsch sitzen ist nicht erwachsen.
    Ich springe über die Steine im Fluß, etwas unterhalb der Steine, an denen sich

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