Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
du ein sinnvolles Leben. Du kannst ein sinnvolles Leben führen, indem du alle Noten, die geschrieben wurden, liest. Ich brauche solche wie dich, wenn ich weiterhin Schubert sein will. Aber du kannst natürlich auch etwas ganz anderes machen.«
    Er reicht mir eine gewaltige Partitur.
    »Jetzt lies«, sagt er. »Aber studiere sie genau. Dann wirst du begreifen.«
    Die Partitur ist groß und dick. Ich schlage die erste Seite auf.
    Sie ist weiß. Weiß wie eine Winterreise in einem kalten und unwirtlichen Land. Nirgends eine Note.
Die alte Dame auf der Straße
    Es ist Vormittag, inzwischen Oktober und kälter. Ich sitze am Flügel und übe das Debütprogramm, mit jedem Tag systematischer, Prokofjews siebte Sonate mit tiefer Handstellung und gekrümmten Fingern, um technisch den maximalen Effekt zu erzielen, wie Selma Lynge meint. Ich denke an die komischen Träume mit Schubert, weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.
    Nach zwei Stunden intensiver Arbeit mit den drei intrikaten Sätzen gehe ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen.
    Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Gestalt auf der Straße stehen, direkt am Gartentor.
    Es ist eine alte Dame um die Siebzig, mit Mantel und Stock. Sie sieht irgendwie wehmütig, fast hilflos aus, steht nur still da und starrt zum Haus.
    Sie erblickt mich.
    Ich bleibe in der Küche stehen, warte, daß sie weitergeht, aber sie tut es nicht. Sie steht nur da und schaut.
    Da ziehe ich mir die Jacke über, denn es ist jetzt kalt, mit Frost in den Nächten.
    Ich gehe hinaus zu ihr, zögere ein wenig, denn sie macht einen verwirrten, fast schreckhaften Eindruck, weil ich direkt auf sie zugehe.
    »Entschuldigung«, sage ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie macht Anstalten, zu gehen, überlegt es sich dann anders, als sie sieht, daß ich freundlich auftrete.
    »Tut mir leid«, sagt sie und sieht mich prüfend an, »aber ich bin … ich wollte nur …«
    »Sie sind mir keinerlei Erklärung schuldig«, sage ich so höflich ich kann.
    »Ich bin Martha Skoog«, sagt sie.
    »Martha Skoog«, wiederhole ich fast ehrfürchtig. Also ist sie die Mutter von Bror Skoog und die Großmutter vonAnja. Sie muß bei der Beerdigung gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern. Ich suche in ihrem Gesicht nach Anjas Zügen, finde aber nichts, abgesehen von den langen Ohren.
    »Wer sind Sie?« fragt sie mit wachsamem Blick.
    Ich strecke ihr die Hand hin. »Entschuldigung«, sage ich, »ich heiße Aksel Vinding.«
    Sie nickt, blättert in ihrem privaten Erinnerungsarchiv. »Richtig«, sagt sie, jetzt hellwach. »Sie waren einer der Teilnehmer beim Wettbewerb Junge Pianisten.«
    »Ja«, sage ich. »Und ich war Anjas Freund.«
    »Davon haben Bror oder Anja nie etwas erzählt«, sagt Martha Skoog entschieden.
    Das versetzt mir einen Stich, aber ich lasse mir nichts anmerken.
    »Nun ja«, sage ich.
    Sie mustert mich, wie nur alte Menschen die Jungen mustern können. »Was machen Sie dann hier in diesem Haus? Anja ist tot, wie Sie wissen.«
    »Ich habe bei Marianne Skoog ein Zimmer gemietet.«
    »Ein Zimmer? Warum das?«
    »Weil ich Pianist bin. Weil in dem Haus ein guter Steinway-Flügel steht.«
    Sie nickt, ist aber noch nicht überzeugt.
    »Sie sind einfach in dieses Haus eingezogen, in dem soviel Tragisches geschehen ist?« sagt sie.
    »Ja«, sage ich. »Aber warum stehen Sie hier? Wollen Sie nicht hereinkommen?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Ich stehe hier, weil ich verstehen möchte«, sagt sie.
    »Was verstehen?«
    »Verstehen, warum sich mein Sohn das Leben genommen hat. Verstehen, warum es mit der armen Anja so schlimm enden mußte.«
    »Das ist nicht zu verstehen«, sage ich.
    »Sagen Sie das nicht«, sagt sie.
    »Sie dürfen gerne hereinkommen.«
    »Nein, danke.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich mußte es nur noch einmal sehen.«

    Wir bleiben eine Weile stehen, ohne etwas zu sagen.
    »Wie geht es Marianne jetzt?« fragt Martha Skoog unwillig, als hätte sie eigentlich keine Lust, darüber zu reden.
    »Ihr geht es den Umständen entsprechend gut«, sage ich. »Sie versucht, soviel wie möglich zu arbeiten, versucht, ihren Alltag unter Kontrolle zu bringen.«
    »Marianne hat nie etwas unter Kontrolle gehabt«, sagt Martha Skoog.
    »Wie meinen Sie das?«
    Martha Skoog schaut mich an.
    »Ihnen dürfte doch klar sein, daß hier ein Teil der Ursache liegt«, sagt sie indigniert.
    »Der Ursache wovon?«
    »Der Tragödie natürlich!« Sie schreit es mir fast ins Gesicht, als sei alles meine

Weitere Kostenlose Bücher