Der Fluß
wollten das aber beenden. Aber weil es unmöglich ist, in Woodstock zu sein, zusammen im Zelt zu liegen und sich nicht zu berühren, begannen wir von neuem. Diesmal war die Beziehung ernster, weil wir zurückfanden zu etwas, was wir eigentlich verdrängt hatten.«
»Das war die Freundin, von der du mir erzählt hast?« sage ich.
»Ja«, sagt sie.
»Das ist die, mit der du nachts telefonierst?«
»Ja«, sagt sie.
Es ist ein seltsames Gefühl, so persönlich mit ihr zu sprechen, während uns zwei Paar Augen verwundert anschauen. Aber es ist einer jener seltenen Abende, an denen sich ein Raum der Vertraulichkeit öffnet.
»Hast du immer noch ein Verhältnis mit ihr?« frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Tätschelt mir die Wange, was sie sonst nur macht, wenn niemand dabei ist.
»Als sich Bror erschoß, mußten wir uns entscheiden. Wollten wir auf dieser Basis eine Liebesbeziehung aufbauen? Sollte eine Leiche der Nährboden für unser neues Glück sein? Nein, das war unmöglich, so schlau war Bror. Er wußte, daß er uns trennen würde, indem er freiwillig die Welt verließ.«
»Er hat sich wegen euch erschossen?«
»Ja«, sagt Marianne Skoog.
Wäre sie nur an jenem Abend nicht so stark gewesen, denke ich. Aber dort, im Sandbunnveien, erzählt sie uns die fürchterliche Geschichte des letzten Tages von Bror Skoog, wie er, durch einen Zufall, ein Telefongespräch zwischen Marianne Skoog und ihrer Freundin belauschte. Das war im Frühsommer 1970. Seine Tochter war sehr krank. Die vergangenen Monate waren schrecklich gewesen für ihn. Er hat Anja an einen unbekannten Ort gebracht, hat dort Tagfür Tag um ihr Leben gekämpft. Er hört, was seine Frau zu der Freundin sagt und erfährt, daß sie eine Liebesbeziehung miteinander haben.
»Es war am Nachmittag«, sagt Marianne Skoog, jetzt tief in ihren Erinnerungen versunken. Sie hat uns andere am Tisch vergessen. Trotzdem spricht sie zu uns. »Ich erinnere mich, daß der Flieder blühte. Bror und ich liebten beide den Flieder. Anja liegt schwer krank in ihrem Zimmer. Wir versorgen sie abwechselnd, es ist fast nichts mehr von ihr übrig. Wir wissen nicht, daß sie bald sterben wird. Wir glauben, daß noch eine Hoffnung besteht. Aber wir sind erschöpft, alle beide. Und wir haben in der Beziehung zu ihr ganz verschiedene Rollen gespielt. Seit Jahren hatte ich vor, aus dieser Ehe auszubrechen, wollte nur warten, bis Anja achtzehn Jahre ist. Merkwürdig, daß man solche Zeitrahmen festlegt, nur um die eigene Entscheidung hinauszuschieben. Was wäre dabeigewesen, wenn ich Bror zwei Jahre früher verlassen hätte? Aber an jenem Nachmittag trenne ich mich von ihm, jedenfalls mental. An jenem Nachmittag hört er mich Dinge sagen, die kein Ehemann gern von der Frau, mit der er verheiratet ist, hört. An jenem Nachmittag telefoniere ich nichtsahnend mit der Frau, der lieben Kollegin, die ich zu lieben glaube. Die Einzelheiten dieses Gesprächs weiß ich nicht mehr, aber es waren sicher ernste Dinge, die gesagt wurden. Ich rede über meine Sorge um Anja. Ich erzähle ihr, daß ich nicht ausziehen kann, bevor sich die Situation geklärt hat. Ich sage, daß ich etwas Zeit brauche, aber nicht viel. Ich sage, daß meine Entscheidung feststeht. Daß ich Bror Skoog nicht mehr liebe.«
Sie macht eine Pause, zündet sich eine neue Zigarette an. Wir anderen trinken. Aber Marianne Skoog trinkt nichts mehr.
»Als ich den Hörer auflege«, fährt sie langsam fort, »höre ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehe mich um und schauedirekt in das Gesicht von Bror, meinem treuen Ehemann seit siebzehn Jahren. Wer das nicht selbst erfahren hat, versteht nicht, welche Trauer es in einer Ehe gibt, wenn der eine den anderen so massiv enttäuscht. In Brors Gesicht lese ich nur ungläubiges Erstaunen. Und ich lese noch etwas, das noch schicksalsträchtiger ist: Ich lese Verständnis . Er versteht zum erstenmal, was mit mir los ist. Er versteht zum erstenmal, daß ich einen anderen Menschen habe. Daß ich ihn verlassen werde. Ganz still steht er da, das werde ich nie vergessen. Er ist kreideweiß im Gesicht, er stützt sich am Türrahmen, und das einzige, was er sagt, ist: ›Warum hast du mir so lange nichts gesagt?‹ Ich konnte nicht antworten. Ich wußte keinen anderen Grund als meinen idiotischen Plan mit Anjas achtzehntem Geburtstag. Aber er bleibt im Türrahmen stehen, reglos. Und weil er so weiß ist, ähnelt er einem Clown, eine Assoziation, die ich bei Bror noch nie hatte. Er war der
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