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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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den bestmöglichen Start für eine Karriere zu ermöglichen. Darum ging es, ungeachtet aller Gerüchte. Bror war kein Verbrecher. Er war verantwortungsbewußt und gewissenhaft. Er hielt Wort. Er hatte seine dunklen Seiten, aber nicht so dunkel, daß er sich an ihr vergangen hätte. Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht war es ein mentaler Mißbrauch. Er lud ja Anja alle seine Erwartungen auf. Sie war zu jung, um zu erkennen, daß er es nur gut mit ihr meinte. Sie glaubte vielleicht, daß seine Liebe zu ihr von der Erfüllung seiner Forderungen abhing. Vielleicht beruht diese Tragödie darauf, daß sie einander mißverstanden.«
    »Anja wäre auch ohne den Selbstmord des Vaters gestorben?« fragt Selma Lynge.
    »Ja, sie wäre gestorben«, sagt Marianne Skoog.

    Sachertorte, Kaffee und Cognac. Ein Duft nach Europa steigt im Sandbunnveien auf. Ich vergesse so leicht, daß Selma Lynge einmal weltberühmt war. Ich vergesse, daß mansie gefeiert hat, bewundert hat. Torfinn Lynge ist für den Ablauf des Abends zuständig, steht auf, räumt den Tisch ab. Marianne und ich helfen, stellen die benutzten Teller in die Spülmaschine. Er kocht Kaffee. Er holt die Cognacschwenker. Er trägt den Kuchen herein.
    Selma Lynge sitzt still da und lächelt anerkennend.

    Marianne Skoog küßt mich, flüstert mir ins Ohr:
    »Habe ich etwas Falsches gesagt? Habe ich dir Schwierigkeiten bereitet?«
    »Nichts war falsch«, sage ich.
    »Gut«, sagt sie und hält mich weg von sich, um mich besser sehen zu können. Und sie ist zufrieden, vielleicht will sie mich auf diese Weise testen, denke ich. Jetzt kenne ich die ganze Geschichte. Eine Geschichte, die zu schwer wog, um sie allein zu ertragen. Ihre Augen leuchten. Sie wirkt erleichtert und befreit.
Verzeihung
    Wir werden von Torfinn Lynge aufgefordert, uns wieder ins Wohnzimmer zu setzen. Marianne Skoog hat um Entschuldigung gebeten, weil sie soviel Aufmerksamkeit beanspruchte. Selma Lynge hat ihr versichert, daß ihre Geschichte uns alle erschüttert hat. Wie zwei Freundinnen gehen sie leicht schwankend Arm in Arm ins Wohnzimmer, ein plötzliches Frauenbündnis. Man kann sehen, daß Selma Lynge getrunken hat. Heute Abend wird gefeiert. Für Torfinn Lynge scheint die Zeit reif zu sein, und er kommt mit einem gut gefüllten Glas Asbach Uralt auf mich zu.
    »Es stimmt nicht, daß französischer Cognac der beste ist«, sagt er. »Probiere den mal.«
    Wir prosten uns zu. Ich koste. Er ist gut, aber nicht sehr gut.
    »Ausgezeichnet«, sage ich.
    Torfinn Lynge lächelt zufrieden. Wir setzen uns.
    »Hast du noch mal über Zapffe nachgedacht? Sein Protest dagegen, Pessimismus mit neurotischen Bedürfnissen zu erklären?«
    »Nein«, sage ich, bin verblüfft, daß er meine Ansichten so ernst nimmt. Daß er tatsächlich über dieses Thema mit mir diskutieren will.
    »Aber ich erinnere mich an das, was du erklärt hat, daß Depression unter gewissen Voraussetzungen eine gesunde Reaktion sein kann.«
    Torfinn Lynge nickt.
    »Und das ist wichtig, verstehst du. Dabei geht es schließlich um das Grundverständnis unserer Psyche.«
    Es gelingt mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich starre hinüber zu den Frauen, die nebeneinander auf der Couch sitzen und sich intensiv über etwas unterhalten. Marianne Skoog ist immer noch von einer Aura umgeben, wirkt unverwundbar. Vielleicht mußte sie deshalb heute abend ihre Geschichte erzählen, denke ich. Hier und nur hier fühlte sie sich stark genug. Hier konnte sie bekennen, konnte Schuld eingestehen. Brauchte sie die Frauensolidarität? Hat ihr Selma Lynges Anwesenheit den Mut gegeben?

    Ich werde nie erfahren, worüber sie sprachen, die beiden Frauen. Mir fällt nur auf, daß das Thema ernst ist, daß sie sich gleichzeitig neue Zigaretten anzünden, daß Selma Lynge Tee trinkt, daß Marianne Skoog nichts trinkt, daß alles anders ist, als ich mir das vorgestellt hatte.
    Torfinn Lynge versucht, etwas zu mir zu sagen. Ich bin nicht imstande, ihm zuzuhören.

    Von jetzt an erstarrt der Abend in meiner Erinnerung, wirkt eiskalt:
    Wir sitzen im Wohnzimmer und trinken Kaffee, essenSachertorte und trinken Asbach Uralt. Ich fühle mich glücklich, fast schläfrig, bin schockiert von dem, was Marianne Skoog uns erzählt hat, aber trotzdem vor allem glücklich, weil dieses Stadium jetzt überwunden ist, weil Marianne Skoog es geschafft hat, über das Allerschwierigste zu reden. Ich sehe neue Seiten an Selma Lynge. Ich bin bereit, zu vergessen, daß sie mich mit

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