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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Feingefühl zuzerstören. Jung zu sein hat etwas Ursprüngliches, das im späteren Leben nicht mehr da ist. Leben ohne Sicherheitsnetz, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen«, sagt Marianne Skoog. Und an dieser Stelle des Gesprächs glaube ich fast, daß diese zwei Frauen sich mögen, daß sie ihre jeweiligen Rollen, die sie in meinem Leben spielen, respektieren. Und viele Jahre später, wenn ich an diese Einladung denke, wenn ich mir die Einzelheiten ins Gedächtnis rufe und sie in verschiedenem Licht betrachte, jedes Wort hin und her drehe, bei jeder Atempause innehalte, entdecke ich nichts, was das, was später geschehen wird, erklärt. Aber mir läuft es kalt den Rücken hinunter, wenn ich mir die Stimmung vergegenwärtige, die Unruhe, die ich empfand, weil Marianne Skoog so ruhig war. Diese seltsame Spannung zwischen ihr und mir, die Art, wie sie mich anschaute, als ich lange und begeistert über Anjas Flügel sprach und dessen Besonderheiten. Die Art, wie sie mich später anschaute, als wir beim Essen saßen, als sie ihre schockierenden Mitteilungen machte. Ich wußte nicht, daß sie sich da bereits entschlossen hatte. Daß die Freundlichkeit, mit der sie Selma Lynge begegnete, ein Beweis dafür war, daß sie eine Art Erleichterung empfand, zu sehen, daß diese Selma Lynge geeignet war für die Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatte; sich um mich zu kümmern, mich zu einem Debüt zu bringen, das für meine Karriere entscheidend sein würde. Ich versetze mich in diesen Oktoberabend 1970 im Hause von Selma und Torfinn Lynge im Sandbunnveien, als sich alles veränderte. Ich erinnere mich, wie ich am Tisch sitze, die Frauen reden lasse, während Torfinn Lynge auf die Uhr blickt und in die Küche geht. Er ist der Koch, obwohl wir ein bayerisches Gericht serviert bekommen. Schweinebraten und Knödel. Dazu Bier von Paulaner, das sie aus München mitgebracht haben. Torfinn Lynge steht plötzlich mit geblümter Schürzein der Tür, macht eine weit ausholende Geste und sagt, daß serviert ist.

    Während des Essens ist die Stimmung angespannt. Marianne Skoog erzählt von ihrer Arbeit, vom Verein Sozialistischer Ärzte. Über den Kampf um das Recht auf Abtreibung in Norwegen. Selma Lynge hört aufmerksam zu. An kleinen Bemerkungen und der Art, wie sie nickt, stelle ich fest, daß sie ihrem Gast Achtung entgegenbringt. Gleichzeitig sagt sie, daß sie, als fünfzehn Jahre ältere Frau und Katholikin, das Recht auf Abtreibung nicht unterstützen kann.
    Torfinn Lynge nickt zu dem, was Marianne Skoog sagt. »Das ist richtig«, sagt er und hat dabei die Augen auf einen Punkt am Boden gerichtet.
    »Aber das ungeborene Leben … ist das nicht wichtiger?« sagt Selma Lynge zweifelnd.
    »Wichtiger als was?« sagt Marianne Skoog. »Wichtiger als die Mutter, die es zur Welt bringt?«
    »Ja, beinahe«, sagt Selma Lynge.
    »Dann wird die Frau jedesmal wieder zur Selbstaufgabe gezwungen. Und wenn die Frau, die Mutter, die gerade entbunden hat, stirbt, wer soll dann das Kind aufziehen? Der Mann, der schuld war, der für einige Sekunden des Glücks bereit war, zwei Leben zu opfern?«
    »Jetzt übertreiben Sie!«
    »Nein, Frau Lynge, ich übertreibe nicht!«
    »Nenn mich Selma.«
    »Nenn mich Marianne.«
    Noch nie habe ich erlebt, wie zwei Frauen in einer Diskussion, in der sie extrem unterschiedliche Auffassungen vertreten, Freundschaft schließen.
    »Dazu noch eines«, sagt Marianne Skoog und dreht sich eine Zigarette, gerade als das Essen auf dem Tisch steht. Ich merke, daß der Alkohol wirkt, daß ich ruhiger werde. »Ichwar letztes Jahr im August beim Woodstock-Festival. Ich sah mehrere Tage, wie Männer und Frauen friedlich nebeneinander lebten. Ich sah Männer und Frauen auf der Bühne. Janis Joplin, Joan Baez und daneben Jimi Hendrix und Joe Cocker. Alle wurden sie mit Bewunderung und Respekt begrüßt. Das war eine Stimmung von tiefster Humanität, mit höchster Achtung vor dem Menschen, egal welcher Herkunft. Das ganze Festival war wie die Prophezeiung einer kommenden Gesellschaft. Als würden erste zarte Grundlagen für eine ideale Zukunft gelegt. Das war Freiheit, aber es war ebensosehr Würde.«
    Selma Lynge hat bereits ein Stück Schweinebraten im Mund. Jetzt hört sie auf zu kauen und spuckt es aus. Und mir wird endlich klar, daß Marianne Skoog ihre Geschichte zu Ende bringen will.
    »Sprichst du von Emanzipation um jeden Preis?« fragt Selma Lynge. »Sprichst du von Freiheit als

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