Der Fluß
Gehirnchirurg, der Ästhetiker, der Kunstliebhaber. Alles andere als ein Clown. Aber jetzt, im Augenblick der traurigen Wahrheit, gleicht er dem Urbild eines Clowns. Nur die rote Nase fehlt. Und wahrhaftig rollt eine große, dicke Träne über seine rechte Wange, hinterläßt eine Spur bis hinunter zum Hals. Die konnte ich sogar noch nach seinem Tod wiederfinden. ›Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen‹, sagte ich ganz aufrichtig zu ihm. Ich erinnere mich, daß ich auf ihn zulaufen, ihn umarmen, ihn mit tausend Erklärungen bombardieren wollte. Aber ich machte es nicht. Es wäre sowieso falsch gewesen. Er hatte mich entlarvt. Ich hatte ihn seit dem Woodstock-Festival belogen, hatte ihn belogen, seit Anja vierzehn Jahre war, schon bevor diese Beziehung begann. ›Du hast mich verletzt‹, erwiderte er. ›Du hast mich zutiefst verletzt.‹ Und er verließ den Raum, und ich wußte, daß ich ihm nicht hinterhergehen konnte. Ich hatte ihn schließlich immer respektiert. Er hatte seine Freiräume. Ich dachte, er würde zu Anja gehen, erwürde ihr die schreckliche Wahrheit erzählen. Aber das tat er nicht. Er ging die Treppe hinunter und weiter bis in den Keller. Ich blieb sitzen, gelähmt von dem plötzlichen Drama, das ich verursacht hatte. Nur wenige Minuten vergingen, dann hörte ich den Schuß. Ich hörte Anja aus ihrem Zimmer rufen: ›Papa! Papa!‹ Ich stürzte hinein zu ihr. ›Mama‹, rief sie in ihrem Bett, die Arme mir entgegengestreckt. ›Jetzt hat sich Papa umgebracht, Mama!‹ ›Wie kannst du so etwas sagen?‹ sagte ich. Sie weinte und umklammerte mich mit ihren dünnen, verwelkten Armen. ›Ich weiß es, Mama. Der Schuß kam aus dem Keller«, schluchzte sie. ›Ich weiß, daß er es getan hat.‹«
Marianne Skoog macht eine Pause, taucht auf aus ihrer Geschichte, blickt um sich, dreht sich noch eine Zigarette.
»Langweile ich euch?« fragt sie.
Wir schütteln die Köpfe, alle drei. Selma Lynge weint. Torfinn Lynge starrt nur. Er starrt Marianne Skoog an und schüttelt dabei fast unmerklich den Kopf.
»Anja wollte, daß ich hinunter in den Keller gehe. Selbst war sie nicht stark genug, sich auf den Beinen zu halten. Ich vergesse nie das Gefühl, als ich die Treppe hinunterging. Die Gedanken, die fürchterliche Vorahnung. Er zuckte noch im Todeskampf, Wände und Decke waren voller Blut. Sogar für einen Arzt ist es überraschend, zu sehen, welcher Druck in uns ist. Unser Blutdruck. Der ganze Raum war blutbespritzt. Der halbe Kopf war weg. Er lag auf dem Boden. Ich versuchte, ihn zu halten, etwas zu ihm zu sagen. Es waren diese seltsamen, kurzen Sekunden zwischen Leben und Tod. Die Augen saßen nicht mehr fest, glitten nach hinten, rutschten mir zwischen die Finger. Ich hielt seine Augen in meiner Hand und versuchte, mit ihm zu reden. Und merkwürdigerweise lebten die Augen. Als würde er hören, was ich zu ihm sagte. Ich sagte etwas, was ich nie gedacht hätte,noch mal zu ihm zu sagen. Ich sagte: ›Ich liebe dich, Bror.‹ Ja, das habe ich gesagt. Und ich sagte es zu zwei Augen, die ich in der Hand hielt. Und obwohl ich kurz vorher zu meiner Freundin gesagt hatte, daß ich ihn verlassen werde, daß ich Schluß mache, daß es kein Zurück gibt, hatte ich in dem Moment das Gefühl, daß es einen Weg geben müsse. Daß wir das hätten in Ordnung bringen können, daß ich ihn faktisch immer noch liebe, und das mit einer solchen Heftigkeit, daß ich die ganze Woodstock-Fahrt am liebsten ungeschehen machen würde, daß meine Freundin nun doch keine Chance habe, daß ich sie zum Narren gehalten hätte. Aber das waren sinnlose Gedanken. Es war zu spät. Ich bin Ärztin. Ich habe viele tote Menschen gesehen. Und ich wußte, daß Bror tot war, daß selbst seine Augen nicht mehr lebten, als ich sie vorsichtig auf den Steinboden legte und sah, daß das Blut aufgehört hatte, aus dem Körper zu laufen, daß das halbe Hirn zerfetzt hinten in der Ecke bei der Tiefkühltruhe lag.«
Marianne Skoog schaut uns ruhig an, will sich versichern, ob wir noch zuhören.
»Tja«, sagt sie. »Ich bin wieder hinauf zu Anja gegangen. Sie lag in ihrem Bett und erwartete mich. ›Ist Papa tot?‹ sagte sie. ›Ja‹, sagte ich. ›Hat er sich erschossen?‹ sagte sie. ›Ja‹, sagte ich. ›Kann ich ihn sehen?‹ sagte sie. ›Natürlich kannst du das‹, sagte ich. Und sofort kam mir der Gedanke, daß sie gar nicht nach dem Grund fragte, als habe der keine Bedeutung. Sie wollte ihn nur sehen.«
Marianne Skoog
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