Der Fluß
schaut mich plötzlich intensiv an, als wolle sie die Worte für alle Zeiten in mein Gedächtnis brennen. »Ich trug sie auf dem Rücken, Aksel. Wie du mich an dem Abend vom Brunkollen heimgetragen hast. Und es war merkwürdig, die eigene Tochter, die mit der Philharmonie debütiert hat, die eine glänzende Zukunft vor sich hat, die Papas Liebling ist, die Treppe hinunter in den Keller zutragen und zu spüren, daß sie nichts mehr wiegt, daß sie, bereits vor ihrem Tod, ein Engel geworden ist, ein schönes, zartes Geschöpf, ein flüchtiger Geist, den niemand festhalten kann, dessen schlanke, starke Finger ich aber noch nach so langer Zeit an meinem Hals spüre. Das einzig Starke an ihrem Körper. Sie ist Haut und Knochen und hängt über meiner Schulter, als wir in der Türöffnung stehen und auf ihn hinunterschauen, auf den Mann, den wir beide liebten. Und sie weint nicht. Sieht ihn nur an. Und sie sagt: ›Armer Papa‹. Und ich, ihre Mutter, sage: ›Es ist meine Schuld.‹ ›Von Schuld ist hier nicht die Rede‹, sagt sie. Und dann kam das Schwierigste. Denn es gab nichts mehr zu sagen. Ich trage sie, hängend auf meinem Rücken, wieder in ihr Zimmer, lege sie behutsam ins Bett. Und was immer auch zwischen ihnen war, sie hat ihn verloren. Aber merkwürdig ist doch, daß sie nicht geweint hat, nicht ein einziges Mal bis zu ihrem Tod ein paar Wochen später. Sie nahm nur meine Hand und sagte fast tröstend, als sei meine Trauer das wichtigste: ›Du mußt die Polizei anrufen, Mama.‹ Und das habe ich gemacht.«
»Vielleicht fiel es ihr so leichter, selbst zu sterben?« sage ich, denn die Stille im Zimmer war mir unerträglich.
»Wie das?« fragt Marianne Skoog.
»Daß Bror Skoog sich das Leben nahm.«
»Daß er ihr vorausging, meinst du?«
»Ja. Möglicherweise.«
»Ich weiß nicht, was Anja fühlte«, sagt Marianne Skoog. »Ich rief den Krankenwagen und die Ambulanz. Anja kam am gleichen Abend nach Ullevål in die Klinik. Ich suchte Zuflucht bei meiner Freundin. Aber das klappte nicht. Unsere Beziehung war vorbei. Das wußten wir beide. Sie trauerte, war über das, was passiert war, genauso verzweifelt wie ich. Und ich war unfähig, noch mehr Trauer auf michzu nehmen. Aber beide wußten wir, daß uns an diesem Tag das sogenannte Glück genommen worden war. Und danach kam die Zeit im Krankenhaus, Anjas letzte Tage.«
»Wie starb sie?«
»Endlich fragst du danach«, sagte Marianne Skoog mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich hätte nicht gedacht, daß du noch fragen würdest. Aber du warst ja am letzten Abend da. Ihr habt über Schubert gesprochen, oder nicht?«
»Doch«, sage ich, »wir sprachen über das C-Dur-Quintett.«
»Anja liebte Schubert«, wirft Selma Lynge ein, als wolle sie auch ihren rechtmäßigen Teil an der Geschichte reklamieren.
»Ihr hattet ein sehr wichtiges Gespräch«, sagt Marianne Skoog.
»Ja«, sage ich. »Je mehr ich darüber nachdenke, um so wichtiger werden ihre Worte.«
»Was sagte sie?«
»Eigentlich sprachen wir über den Tod. Ich fragte, wo ich sie finden könne. Weißt du, was sie antwortete?«
Marianne Skoog schüttelte den Kopf.
»Sie sagte: ›Suche nach mir irgendwo zwischen der Bratsche und der zweiten Violine.‹«
»Hat sie das wirklich gesagt?« Selma Lynge wirft mir einen fragenden Blick zu.
»Ja, das hat sie gesagt. Und ich erinnere mich ganz genau. Denn es war Schuberts C-Dur-Quintett, über das wir sprachen. Und da gibt es keine Klavierstimme.«
Konsequenz der Geschichte
Nach dem eben Erzählten wurde die Stille für uns alle spürbar. Eine notwendige Stille. Ich schaue zu Selma Lynge. Sie sieht aufrichtig betroffen aus. Sie weint nicht mehr, aber ihr Gesicht hat sich geöffnet.Sie blickt voller Respekt auf Marianne Skoog. Ich sehe, daß sie erschüttert ist.
»Das wußte ich alles nicht«, sagte sie.
»Woher hättest du es wissen sollen?« sagt Marianne Skoog. »Ich trage natürlich auch Verantwortung«, sagt Selma Lynge. »Ich habe drei Kinder. Ich weiß, was es heißt, Mutter zu sein. Ich hätte es sehen müssen. Ich hätte es viel früher erkennen müssen.«
»Du sprichst von Anja. Aber Anja war nicht so leicht zu durchschauen. Und vielleicht hatten sie und Bror einen heimlichen Pakt.«
»Du nennst es einen Pakt?« sagt Selma Lynge.
»Ja, einen Pakt«, sagt Marianne Skoog. »Das ist nicht so schwer zu verstehen. Hat nicht jeder von uns einen Pakt? Zunächst hatte Bror nur ein Ziel im Leben, die Liebe zu mir. Dann kam ein Ziel hinzu, Anja
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